Mit sich selbst befreundet sein
das einzige Problem: Von einem integrierten Ich lässt sich nicht mehr sprechen, jedes Ich-Teil geht seinen eigenen Weg. Das aber ist die kindliche Erfahrung: Das »Ich« wandert und springt und schlägt Purzelbäume. Es durchwandert alle möglichen Schwerpunkte, die zur Grundlage des werdenden Selbst werden könnten, und probiert sie aus. Ein Affekt, eine Laune, ein Ziel, eine Beziehung allein besetzt jeweils das gesamte Ich für sich, eine Stunde, einen Tag, ein halbes Jahr. Der Ich-Punkt springt herum und bleibt in aller Instabilität recht stabil. Erst allmählich lässt sich im kraftvollsten Impuls der Ansatz zu einem integralen Selbst erkennen, das die herumspringenden Ich-Punkte zu organisieren vermag. Das Ich, das Wert darauf legt, ein Ich zu sein, kommt nicht umhin, seine Teile so zusammenzufügen, dass alle Ichs zu ihrem Recht kommen, aber nicht unbedingt alle zugleich. Das ist die Arbeit an sich selbst, an der eigenen »Kohärenz«, kein Kinderspiel, sondern ein Prozess schmerzlicher Entscheidungen: Was soll Vorrang haben, was kann später kommen? Gebunden ist dies an die Fähigkeit zur Selbstreflexion, wiesie von Erziehung und Selbsterziehung, Kritik und Selbstkritik, Bestärkung und Erfahrung befördert wird. Eine hilfreiche Asketik auf dem Weg zur Selbstfindung bietet die Theaterpädagogik : Übungen, um die verschiedensten, auch abgründigen Aspekte seiner selbst kennen zu lernen und spielerisch ins Verhältnis zueinander zu setzen, sie zu präsentieren und ihre Wirkung zu erproben.
Die Frage nach dem Selbst bricht im Moment des Verlustes seiner Selbstverständlichkeit auf. Mit der anfänglichen Erfahrung einer inneren Vielheit setzt die Selbstreflexion ein, ein Wissenwollen: »Wer bin ich?« Auf dem Weg der Selbstvergewisserung bemüht das Ich sich um eine Vergegenwärtigung des Vergangenen, um sich darin wiederzufinden, und es findet sich in der Begegnung mit anderen, die es in seinem Selbstsein bestärken. Andere aber sind es auch, die die Erfahrung der Einsamkeit des Ich hervortreiben, wenn es auf seine Frage, wer es selbst denn sei, nur zur Antwort erhält: »Du bist nicht ich.« So fühlt das Selbst sich allein mit sich in der Welt und seine Seele schmerzt, da sie sich vor Sehnsucht nach dem Einssein mit anderen verzehrt. Es sind diese Begegnungen mit anderen und die schmerzlichen Erfahrungen mit sich selbst, die Täuschungen und Enttäuschungen, die Faszination des Lebens und dann wieder die Verzweiflung darüber, durch die hindurch das Selbst definiert wird, auch wider seinen Willen. Die Selbstverständigung und Selbstvergewisserung ist nicht etwa ein Weg, der irgendwann zu Ende wäre, die Arbeit an der Integrität des Selbst ist nie abgeschlossen. Der Weg durch die irritierende Welt der Erfahrungen ist vielmehr die Definition des Selbst, das durch die bloße Deklaration (» das bin ich«) die Frage nach sich nicht schon beantworten kann. Könnte das Selbst nicht einfach nur der Traum eines anderen sein? Aber nur um den Preis, wie eine Kerze zu verlöschen, wenn dieser Traum ausgeträumt ist.
Die Arbeit an einer ersten Zusammenfügung des Selbst nimmt die gesamte Kindheit in Anspruch. Im selben Maße, in dem es sich festigt, kann es Verabredungen mit sich selbst und anderentreffen und einhalten; Verlässlichkeit entsteht auf diese Weise. Ist diese Arbeit getan, zerbricht das Selbst wieder und muss in einem schwierigen Prozess neu »gefunden« werden; auch das soziale Können, kaum erworben, schwindet nahezu vollständig dahin und ist über lange Zeit hinweg erst wieder zu gewinnen. Einzelne Eckpunkte, die den künftigen Kern des Selbst markieren könnten, werden versuchsweise festgelegt und für eine gewisse Zeit zur uneinnehmbaren Festung ausgebaut, um nur irgendwelche Gewissheit und Festigkeit in der Zeit völliger Ungewissheit zu gewinnen: daher die Verehrung eines Popidols, die Wertschätzung des Zuhause, der Rückzug ins eigene Zimmer, die laute Musik, in deren Geräuschkulisse sich das Selbst geborgen fühlt. Alles am Selbst und seinem Leben wird in der Pubertät zum Versuch und Experiment, alles steht von Grund auf in Frage, und mühsam ist neu zu finden, was vormals einfach gegeben war; zu finden nun vom Selbst allein, da die Arbeit anderer keinerlei Anerkennung mehr erfährt. Nach einer ersten Wachstumsphase in den ersten Jahren ist dies in neurobiologischer Sicht der zweite große Entwicklungsschub des Gehirns im zweiten Lebensjahrzehnt, der viele Jahre in Anspruch nehmen kann: Ein
Weitere Kostenlose Bücher