Mit sich selbst befreundet sein
großer Überschuss an Synapsen entsteht, jugendlicher »Überschwang« ( exuberance ), wie der von Romantikern und Neurobiologen gleichermaßen gebrauchte Begriff heißt; eine »geballte Masse von Möglichkeiten«, von denen übrig bleibt, was sich als nutzbar erweist, und verfeinert wird, was häufigen Gebrauch findet, entsprechend den Erfahrungen, die an der Formbarkeit des Gehirns, seiner »Plastizität«, entscheidenden Anteil haben. Besonders langsam aber reift die evolutionsgeschichtlich jüngste Hirnregion, die bei Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen die stärkste Ausprägung erfahren hat: der präfrontale Kortex. Solange die hier angelegte Urteilskraft nicht ausgebildet ist, schlagen die Impulse des Gefühlszentrums Amygdala ungehindert aufs Verhalten durch, Grund dessen, was bei Kindern noch als Unbefangenheit, nun jedoch als jugendliche Unverschämtheiterscheint (von den Anfängen der Forschung hierzu erzählt Barbara Strauch, Warum sie so seltsam sind , 2003).
Das Erwachsenwerden vollzieht sich in jeder Kultur, in modernen Gesellschaften jedoch mit unvergleichlicher Heftigkeit und zeitlicher Erstreckung: Je fortgeschrittener die Moderne ist, desto länger scheint es zu dauern, sie einzuholen. Ein Transitraum bildet sich aus, der nicht mehr durch punktuelle Initiationsrituale , sondern durch das lange Ritual der Befreiung definiert ist: Pubertät ist das Drama der Befreiung, aber auch die Tragödie der Erfahrung des Nichts, das auf die Befreiung folgt und in dem sich nicht leben lässt. So geschieht die Modernisierung des Kindes : Das gesamte Programm der negativen Freiheit als Befreiung von aller Bindung, als Ablehnung und Verneinung von allem und jedem, wird durchgespielt. Jetzt noch an Formen festhalten und Grenzen setzen zu wollen, setzt nur weitere Befreiungswut frei. Die Pubertät schleudert den Heranwachsenden in die Modernität und erweist sich zugleich als deren Treibsatz, denn immer wieder in der Geschichte verdanken sich Modernisierungsschübe einer alles hinterfragenden Jugendbewegung. Vielleicht ist die Modernität selbst nichts anderes als eine kollektive Pubertät, die von nichtmodernen Formen, erwachsen zu werden, nichts mehr wissen will. Mit dem Übergang zur negativen Freiheit als Befreiung schwindet nun auch die kindliche Lebenskunst: In der voll erwachten Reflexion und Selbstreflexion, in der Hinterfragung von allem geht sie unter; tragischerweise ist es die bohrende Neugierde, der Wille zum Wissen des Kindes selbst, durch den seine Lebenskunst unterminiert wird. Dabei geht sie nicht wirklich verloren, das gesamte Leben hindurch ließe sie sich im Grunde wieder erinnern und zumindest selektiv wieder herstellen. Nicht nur das künstlerische Subjekt, sondern auch das Subjekt der bewussten Lebensführung wäre dazu in der Lage, sich zu erinnern, wie das Leben als Kind bewältigt worden ist, um ausgewählte Elemente mit einer neuerlichen Anstrengung der Bewusstheit und der Askese wieder einzuüben, vielleichtunterstützt von therapeutischen Techniken, für die diese Arbeit bedeutsamer sein könnte als die Aufdeckung mutmaßlicher Kindheitstraumata.
Einige Grundzüge der modernen Kultur lassen sich benennen, aus denen die spezifischen Probleme des kindlichen und jugendlichen Heranwachsens in ihr resultieren: Auffassung von Zeit , Begriff der Freiheit , Verständnis des Glücks . Die kindliche Lebenskunst ist geprägt von einer vormodernen Kultur des Raumes, die zwar eine Zeit kennt, aber eine zyklische, wiederkehrende Zeit , in der es auf Sekunde und Stunde nicht ankommt. Die Zeit der Kinder ist die zuverlässige Wiederkehr von Jahreszeiten, von Geburtstagen, von Ferien, von Ritualen wie Ostern und Weihnachten: Das ist der Rahmen, in dem sie sich einrichten. Sie kommen aus einer zyklischen Welt, und erst mit der Pubertät wird der Wechsel der Welten vollzogen, der einem Fall aus dem Raum in die Zeit gleichkommt. Die Moderne wird erfahrbar als Kultur der Zeit, der linearen , vergehenden Zeit , in der jede Sekunde zählt. Ein strukturelles Problem für das Leben moderner Menschen mit Kindern ergibt sich daraus: Regelmäßig kollidieren die Welten dort, wo es um die Auffassung von Zeit geht, etwa beim »Trödeln« des Kindes. Um den ökonomisch gebotenen, beschleunigten Lebensstil nicht zu sehr von Kindern aufhalten zu lassen, auch um ihre Kollision mit schnell beweglichen modernen Techniken, etwa dem Auto, zu verhindern, wurden exterritoriale Räume für sie geschaffen, die vormoderne
Weitere Kostenlose Bücher