Mit sich selbst befreundet sein
Gegebenheiten , insofern alle Beteiligten den Vorgaben modernerKultur zu folgen haben, die sie nicht selbst wählten und deren Normen sie als solche kaum wahrnehmen; bestimmt auch von physiologischen Gegebenheiten , die dazu nötigen, einen wild gewordenen Hormonhaushalt, ein »Drunter und Drüber« im Gehirn und »blank liegende«, noch nicht von Myelin umhüllte Nerven zu ertragen. Dass eine immense Selbstbezogenheit in dieser Zeit entsteht, geschieht nicht wirklich aus Egoismus, sondern aus Notwendigkeit, um all das zu bewältigen, was allein schon körperlich, hormonell, sexuell, aber auch seelisch und geistig im Selbst nun ohne sein Zutun geschieht.
Es sieht sich den Ansprüchen anderer ausgesetzt und zugleich konfrontiert mit der Fluktuation und Komplexität der modernen Welt, in der es seinen Ort nicht finden kann. Gegensätzliche Gefühle wallen auf, widersprüchliche innere Stimmen schreien sich gegenseitig an; unmöglich, in diesem Chaos Ordnung zu schaffen, nicht innerhalb, nicht außerhalb seiner selbst; nach welchen Maßstäben denn? Parallel zur äußeren Unordnung tut eine innere Unendlichkeit sich auf, beglückend und bedrohlich zugleich. Es ist die Zeit, in der Heranwachsende in Traumwelten zu leben beginnen. Mag ein Phänomen menschlichen Lebens überhaupt darin zu sehen sein, über die real erfahrbare Welt hinaus nach Welten der Möglichkeit zu suchen, so tun dies jüngere Menschen in höherem Maße als ältere, und die Moderne in höherem Maße als andere Zeiten; die jugendliche Bewegung der Romantik hat dies mit Beginn der Moderne schon zu ihrem Anliegen gemacht. Für diese Suche scheinen unverzichtbare, überzeitliche ebenso wie situative, zeitgebundene Gründe ausschlaggebend zu sein, vorweg aber ontologische Gründe , hier die Seinsweise des Menschen betreffend, der, wie jedes Lebewesen, aus einer anderen Welt »zur Welt kommt«, ontologisch gesehen aus einem anderen Seinsmodus, nämlich dem Modus der Möglichkeit, um nun mit einer Wirklichkeit konfrontiert zu sein, die zu seiner eigenen wird. Aus völliger Unbestimmtheit kommend, beschreitet der heranwachsende Mensch einen ungewissen Lebensweg,der im Laufe der Zeit zu immer größerer Gewissheit führt, der Gewissheit nämlich, dass alles, was geschieht, immer weniger revidierbar ist.
Wenn es zutrifft, dass alles heranwachsende Leben aus dem Raum der Möglichkeiten kommt, so muss dies für junge Menschen der Raum sein, in dem sie sich zu Hause fühlen. Diese Heimat in der Freiheit der Möglichkeit behaupten sie gegen die Notwendigkeit des Wirklichwerdens , das, wie sie richtig erspüren, eine sukzessive Verabschiedung vom Möglichen bedeutet. Daher erscheint ihnen gut, was ihr ontologisches Zuhause bewahrt, vor allem die Erfahrung der Liebe, die den Eindruck unendlicher, unbegrenzter Möglichkeit vermittelt; auch ein rätselhaftes Phänomen wie das Bedürfnis, stets »online« zu sein, ist so noch erklärbar: Der virtuelle Raum gewährt den Aufenthalt im verführerischen Raum der Möglichkeiten, gegen den keine Wirklichkeit je ankommen wird. Reinheit, Absolutheit, Unendlichkeit: Ideale wie diese sind nur in der Welt der Möglichkeit erfahrbar; mit jeder Realisierung beginnt eine Relativierung, die in Endlichkeit mündet – notwendigerweise, auch ohne jede Verschwörung, denn jede realisierte Möglichkeit ist im Vergleich zur Fülle potenzieller Möglichkeiten relativ und endlich. Zudem stößt jede individuelle Realisierung auf die Realisierungen anderer und stößt sich an ihnen; erst recht steht die Trägheit des Alltäglichen der Realisierung des Möglichen entgegen. Aber alle Erklärung ändert nichts an der Bitterkeit dieser Erfahrung, wie sie individuell und auch gesellschaftlich zu machen ist; Alptraum jeder Revolution. Gegen die Erfahrung der Begrenztheit und Endlichkeit, die im Laufe des Lebens immer stärker ins Bewusstsein rückt, setzen junge Menschen die Erfahrung des Darüberhinaus, der Utopie, der Transzendenz, der Überschreitung, wie sie in Traumwelten aller Art möglich ist.
Wenn die verlorene Welt der Möglichkeit ihre Herkunft ist, so sollte ihre Zukunft , so ihre Überzeugung, diese Welt wiederherstellen; und dafür können sie gute Gründe geltend machen:Denn ein Verfügen über Möglichkeiten ist die Voraussetzung allen Lebenkönnens. Für die Intimität junger Menschen mit Traumwelten sprechen daher auch Gründe der Lebenskunst : Als Kunst im Sinne des Könnens erfordert sie zuallererst Möglichkeiten, und die
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