Mit sich selbst befreundet sein
wird, ob das Ich bereit ist, sich auf sich zu wenden. Dann nur kann es über die ängstliche Sorge um sich hinaus die kluge Sorge für sich entfalten, und dies auf doppelte Weise: kognitiv mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins (sich bewusst zu fühlen und von sich zu wissen), asketisch mit der Arbeit der Selbstgestaltung (aus sich herauszugehen und auf sich einzuwirken). Für die bewusste Lebensführung sind beide Seiten unverzichtbar. Um die Beziehung zu sich selbst sehr bewusst wählen und gestalten zu können, bedarf es jedoch einiger Anstrengung auf der Seite des Selbstbewusstseins, vorweg einer sensiblen Aufmerksamkeit auf sich selbst.
Selbstaufmerksamkeit, Selbstbesinnung, Selbstgespräch
Einst war dies, inspiriert und legitimiert von der antiken Philosophie, eine beglückende Entdeckung für mich selbst: mir selbst Aufmerksamkeit widmen, mich auf mich selbst besinnen und bewusst die Sorge für mich wahrnehmen zu können. Vor allem vom Eis heautón , den Selbstbetrachtungen des Stoikers Marc Aurel aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., war ich tief beeindruckt: »Was geht jetzt in dem Teilchen meines Wesens vor, das man ja das gebietende nennt, und was für eine Seele habe ich also jetzt?« – »Nach der Beschaffenheit der Gegenstände, die du dir am häufigsten vorstellst, wird sich auch deine Gesinnung richten; denn von den Gedanken nimmt die Seele ihre Farbe an.« – »Wenn du des Morgens nicht gern aufstehen magst, so denke: Ich erwache, um als Mensch zu wirken. Warum sollte ich mit Unwillen das tun, wozu ich geschaffen und in die Welt geschickt bin?« – »Ich schreite vorwärts in meinem naturgemäßen Lauf, bis ich hinsinke und ausruhe und meinen Geist in dasselbe Element aushauche, aus dem ich ihn täglich einatme« – und so vieles mehr, das dazu geeignet sein kann zu lernen, »sich selbst zu lieben« ( phileĩn heautón ), wovon vor allem im fünften Abschnitt der Selbstbetrachtungen die Rede ist. Fortan, so beschloss ich, sollte die Übung der Selbstaufmerksamkeit allmorgendlich, da es um ein neues Zurweltkommen geht, einen festen Platz in meinem Leben finden: die Meditation vor dem Aufstehen, die Zeit danach vor dem Spiegel, die sorgsame Pflege des Körpers, die Gymnastik, das Frühstück in aller Seelenruhe, der Spaziergang in frischer Luft, um nicht morgens schon von dem Gefühl gepackt zu werden, zwischen vier Wänden das Leben zu verraten. Hatte nicht Nietzsche darauf bestanden, keinem Gedanken Glauben zu schenken, »der nicht im Freien geboren ist« ( Ecce Homo , »Warum ich so klug bin«)? Vielleicht das Privileg eines philosophischen Lebens, vor allem aber eine Frage der Zeiteinteilung.
Später erst entdeckte ich die Formel vindica te tibi bei Seneca:»Eigne dich dir an«, womit sein Hauptwerk, die Briefe an Lucilius über Ethik aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., einsetzt; eine Formel, die im ausgehenden 20. Jahrhundert das Interesse des französischen Philosophen Michel Foucault auf sich gezogen hat. Das Rekurrieren auf sich selbst erscheint hier als Gegenpol zum Diskurrieren, um aufmerksam zu werden und achtsam zu sein auf sich selbst. Dies wieder aufzunehmen, muss jedoch, anders als bei den Stoikern, nicht dazu führen, das Selbst als innere Burg zu verstehen, die gegen eine feindliche Außenwelt zu errichten wäre. Die Gefahr ist zu groß, mit dem völligen Rückzug auf sich selbst auch alleinige Gültigkeit für das eigene Weltbild zu beanspruchen, da kein Korrektiv mehr in der beständigen Auseinandersetzung mit den Sichtweisen anderer zu finden ist; eher würde der rigide Ausschluss anderer betrieben, als das eigene Weltbild zu korrigieren. Dabei führt dies keineswegs zur erhofften Sicherheit, eher zu einer größeren Verletzlichkeit des Selbst und zur Aggressivität gegen all diejenigen, die das Eigene in seiner Konsistenz bedrohen. Die sensible Aufmerksamkeit auf sich umfasst daher die Aufmerksamkeit auf die Gefahr, nur noch mit sich selbst beschäftigt zu sein.
Während die Fixiertheit auf sich und Ausschließlichkeit der Selbstbeziehung als bloßer Selbstkult erscheint, kann die sensible Selbstaufmerksamkeit und Pflege seiner selbst zum Bestandteil einer Selbstkultur werden. Die Selbstaufmerksamkeit gilt allen Aspekten des Selbst, der Verfassung des Körpers in allen seinen Teilen, der Seele und ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Begierden, dem Geist und seinen Gedanken, der Einbettung des Selbst in die Beziehungen zu anderen und zur Welt. Anregung und Anstoß zur
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