Mit sich selbst befreundet sein
die Reflexivität des Ich.
Eine weitere befremdliche Erfahrung stößt die Reflexion an, nämlich dann, wenn das Ich zu sprechen beginnt: Aus seinem Inneren dringt die Stimme nach außen und hallt ihm von außen als fremde Stimme entgegen, als wäre es die Stimme eines anderen. Wie eine Maske trägt das Ich seine Stimme vor sich her und erfährt sich als ein anderes in ihr, das mit dem Ich keineswegs identisch ist und doch deutlich hörbar von diesem herrührt. Das vorgestellte Ich, das spricht, ist mit dem gegebenen Ich der Stimme, die zu hören ist, konfrontiert. »Ich ist ein anderer«: Das ist keine seltene literarische, sondern eine häufige alltägliche Erfahrung, die beunruhigend wirkt, sobald sie bewusst wird, denn es ist, als würde das Ich sich nur träumen. Und erneut erfährt das Ich sich, wie beim Spiegel, wie von außen: eine Objektivierung seiner selbst, die auf die Subjektivierung zurückwirkt und das Ich in seiner Beunruhigung nicht als dasselbe belässt. Die Stimme ist die »Äußerung«, die die Grenzen des Selbst nach außen hin transzendiert, während im Inneren vielleicht ganz andere Stimmen sprechen. Fast gewaltsam zerreißt die Äußerung die Stilleund den Stillstand der inneren Identität. Wäre es nicht besser, die Stille zu bewahren, sie eins sein zu lassen mit sich, mich aber eins mit mir? Aber die Stimme stellt die Distanz des Ich zu sich erst her, die zur Selbstreflexion wie zur Kommunikation mit anderen unentbehrlich ist.
Die Ängste, der Spiegel, die Stimme: All dies sorgt, angestoßen von der Erfahrung, für eine Besinnung auf sich selbst. Ich beginne über mich nachzudenken und spreche in Gedanken mit mir, über meine Situation, meine Geschichte. Die Gedanken beißen sich fest an quälenden Fragen der Seele, zurückbezogen auf die Ängste, die das Selbst an den Rand des Abgrunds treiben: Was ist das, warum ist es so, lässt es sich jemals wieder ändern? Immer aber, wenn ich darüber nachdenke, wende ich mich auf mich: Eigenartiges Phänomen der Selbstreflexion , das so selbstverständlich erscheint und doch kaum zu verstehen ist, eine menschliche Merkwürdigkeit. Ich wende mich… , also versetzt ein Ich sich in den Modus der Reflexion, ein »Ich-sich«. Zugleich wendet es sich auf sich als Objekt: Ich wende mich auf mich , und bei diesem Sich handelt es sich erneut um das Ich , also ein »Sich-ich«. Aus dem Gegebenen geht das Ich hervor und erreicht in seiner Vorstellung einen Punkt außerhalb seiner selbst, an dem es gleichsam die Richtung wechselt und von außen auf sich blickt: Dieser äußere Punkt, der die Reflexion vermittelt, kann ein realer sein, ein Spiegel, ein Bildschirm, eine Kinoleinwand, eine Theaterbühne, ein Buch, das Gesicht eines anderen, die eigene Stimme, oder aber ein imaginärer , »vorgestellter« Punkt. Beim Blick von außen ist das vorgestellte Ich zuweilen befremdet vom gegebenen, das nun erst sichtbar wird. Aber es ist nicht immer zweifelsfrei klar, was genau gegebenes, was vorgestelltes Ich ist.
Mehrfach kommt es so zur Erfahrung, dass das Ich nicht identisch mit sich ist: in der inneren Erfahrung, vor dem Spiegel, beim äußeren Sprechen, beim Nachdenken über sich selbst. Gesteigert wird dies noch durch die plötzliche innere Zerrissenheit in divergierende Ichs, nicht nur zwischen vorgestelltem undgegebenem Ich, sondern auch innerhalb ihrer selbst: Ein Gedanke, ein Gefühl befiehlt dies, ein anderer Gedanke, ein anderes Gefühl jenes. Bin ich zu Hause, will ich fort, dort aber nach Hause. Mal ist das Ich gedanklich hier, mal dort, und allzu häufig ist es hier und dort zugleich, nirgends aber wirklich. Ist dies meine Meinung oder doch eher nicht? Soll ich dieses oder jenes Ding kaufen, diesen oder jenen Lebensweg einschlagen? Liebe ich x oder y? Das Alleinsein oder die Gemeinsamkeit? Jedem Antrieb widerspricht ein anderer Antrieb, jedem Argument ein anderes Argument. Dilemmatische Situationen sind historisch nicht neu, in moderner Zeit jedoch multiplizieren sie sich. Die Zerrissenheit des Einzelnen resultiert aus der Befreiung, die nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich geschieht: so oder anders fühlen, denken und entscheiden zu können, ohne dass diese Freiheit selbst wieder eingrenzbar wäre. In äußerster Zuspitzung ist Konfusion, die völlige Unentschiedenheit und Unentscheidbarkeit die Folge. Da ist nichts mehr, woran das Ich sich halten, worin es mit sich noch identisch sein kann; alles an sich selbst erscheint ihm gleichermaßen
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