Mit sich selbst befreundet sein
Selbstaufmerksamkeit bezieht das Ich aus einem eigenen Impuls oder aus der Aufmerksamkeit anderer etwa im Gespräch. Aufmerksamkeit erscheint als eine der wichtigsten, zugleich eine der knappsten, mithin umstrittensten Ressourcen unter Menschen, so auch im Umgang des einzelnen Menschen mit sich selbst. Die Knappheit grassiert insbesondere in der Zeitder Moderne, in der die Aufmerksamkeit stets nach allen Seiten hin abgezogen und in immer winzigere Quanten zersplittert wird. So wie das Ich, das die Aufmerksamkeit anderer entbehrt, sich von ihnen missachtet fühlt, so fühlt es sich missachtet von sich selbst bei einem Mangel an Aufmerksamkeit auf sich. Im selben Maß aber, wie es an Aufmerksamkeit auf sich fehlt, wächst das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit anderer. Und wenn diese partout nicht zu erlangen ist? Dann läge es am Ich, mit der Aufmerksamkeit auf sich den Anfang zu machen. Unmöglich ist allerdings, ohne Unterlass aufmerksam zu sein; Aufmerksamkeit braucht Erholung, und in der Unaufmerksamkeit ist sie zu finden: Äußere Unaufmerksamkeit ermöglicht die Zuwendung zu sich, innere Unaufmerksamkeit die Zuwendung zu anderen.
Unter Aufmerksamkeit ist die gezielte Ausrichtung der körperlichen, seelischen, geistigen Energien auf etwas oder jemanden zu verstehen, kenntlich an der Richtung des äußeren Blicks oder der inneren Konzentration. Immer weitere Einzelheiten und Feinheiten sind wahrzunehmen schon bei einer rezeptiven Ausrichtung der Aufmerksamkeit; umso mehr bei ihrer produktiven Ausrichtung: Diese vorsätzliche Pflege der Aufmerksamkeit geschieht auf unterschiedliche Weisen und auf verschiedenen Ebenen, je nach Art der Beziehung und der Situation: im Körperlichen durch Berührung und Bewegung, Blicke und Gesten; im Seelischen durch Aussprache, Zuhören, Zuwendung; im Geistigen durch Konzentration und Meditation. Sie wird gepflegt im Kontext des gewöhnlich gelebten Lebens oder, wo dies nicht zureicht, im therapeutischen Kontext; unmittelbar bezogen auf eine konkrete Situation ( momentane Aufmerksamkeit) oder mittelbar auf den gesamten, im Moment abstrakt erscheinenden Weg, den etwas oder das Leben überhaupt nimmt ( strategische Aufmerksamkeit). Macht der Aufmerksamkeit: Die durch sie vermittelten Energien sind von solcher Intensität, dass ein Mensch darin aufzuleben und aufzublühen vermag, bei ihrem Ausbleiben jedoch in sich zusammensinkt und verkümmert. Sie zu entbehren,kann kränken und krank machen; sie zu erfahren, versöhnen und heilen. In der Ressource, die sie darstellt, ist daher eine Quelle des Lebens ohnegleichen zu sehen, nur so lässt sich das nachhaltige und zuweilen heftige Bemühen, ja der erbitterte Kampf um sie erklären. Ohne Aufmerksamkeit droht ein Leben im Nichts.
Ist es aber statthaft, Aufmerksamkeit auf sich selbst statt auf andere zu wenden? Unterliegt das Selbst nicht sozialen Erwartungen, denen es gerecht zu werden hat? Den wichtigsten Maßstab hierzu formulierte Balthasar Gracián im 17. Jahrhundert im Aphorismus 33 seines Handorakels : »So sehr darf man nicht allen angehören, dass man nicht mehr sich selber angehörte«. Aus guten Gründen: Ein Selbst, das sich selbst zu sehr verliert, ist zu keinerlei Aufmerksamkeit mehr fähig, weder für sich noch für andere. Ansprüche und Erwartungen anderer unterliegen daher sinnvollerweise der Wahl des Selbst, sie anzuerkennen oder nicht, ihnen Folge zu leisten oder sie zu ignorieren. Das Selbst verfügt sogar über die Möglichkeit, den Ansprüchen anderer gänzlich zu entkommen, allerdings könnten die Kosten dafür hoch sein: Andere kommen dann ihrerseits den Ansprüchen des Selbst nicht mehr nach; klugerweise findet dies frühzeitig Eingang in das Kalkül des Selbst. Klüger erscheint es, Ansprüche anderer zumindest wahrzunehmen, um ein reflektiertes Verhältnis dazu zu gewinnen und gegebenenfalls einen Gegenstand der Sorge des Selbst daraus zu machen: Aus der Selbstsorge erwächst die Sorge für andere, jedoch auf der Grundlage selbst gewählter und nicht fremdbestimmter Aufmerksamkeit.
Keine Frage, dass der Spielraum, sich um sich zu kümmern, oft nicht sehr groß ist. Umso süßer sind die Stunden des Alleinseins mit sich, der Aufmerksamkeit auf sich, des Daseins nur für sich. In dieser Zeit entfaltet sich die Selbstbesinnung von selbst, die ansonsten des Anstoßes bedarf, der Anregung oder auch des Erschreckens, der Enttäuschung, des Misslingens, des Verlustes. Die Selbstbesinnung ist die Antwort darauf, dass das
Weitere Kostenlose Bücher