Mit sich selbst befreundet sein
fremd. So entsteht über eine partielle hinaus die totale Selbstfremdheit , zumindest zeitweilig. Und noch die Selbstfremdheit selbst erscheint paradox, denn eigentlich ist da kein vertrauter Punkt mehr, von dem aus etwas am Selbst überhaupt als fremd zu beurteilen wäre; aber wie sonst ließe sich das Phänomen benennen?
Es liegt nahe, die Erfahrung differenter und divergenter Ichs im Ich selbst für misslich zu halten, und doch sind sie die Bedingung dafür, dass es eine Selbstbeziehung überhaupt geben kann. Jede Art von Beziehung, am augenfälligsten bei der Beziehung zwischen zweien, setzt deutlich voneinander zu unterscheidende Entitäten voraus, worin auch immer sie sich unterscheiden mögen. So auch bei der Beziehung zu sich selbst, bei der lediglich weniger gut sichtbar ist, wer hier mit wem eine Beziehung unterhält: das Ich mit dem Ich, das Ich mit sich in allen erfahrbaren Variationen, das vorgestellte mit dem gegebenen Ich, das anderenzugewandte mit dem auf sich selbst bedachten Ich, das Ich des Denkens mit dem Ich des Fühlens, die in sich selbst divergenten Gedanken, die in sich widersprüchlichen Gefühle untereinander. Keinesfalls wäre eine Selbstbeziehung möglich, wenn es nur ein Ich gäbe. »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, lässt Goethe seinen Faust gegen Ende der Szene »Vor dem Tor« seufzen – und dabei hatte er noch Glück, dass es nur zwei waren.
Ist eine Selbstbeziehung zwingend erforderlich? Grundsätzlich ist sie eine Option , keine Norm. Dass ein Ich eine Beziehung zu sich unterhält oder auch nur unterhalten will, kann nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Eine »Pflicht gegen sich selbst« (Kant, Metaphysik der Sitten , 1797) existiert nicht etwa von selbst. Der Verzicht, bewusst oder nicht, auf eine reflektierte Beziehung zu sich ist möglich – falls diese negierende Selbstbeziehung in einer ihrer möglichen Varianten sich überhaupt leben lässt: am ehesten wohl als Nicht-Beziehung der völligen Fraglosigkeit und Selbstverständlichkeit des Verhältnisses zu sich, aber auch als zeitweiliges Aussetzen des Selbstverhältnisses zum Zweck einer Selbsterholung . Weniger aber als Ausschluss-Beziehung der Selbstflucht und Selbstablehnung , durch die das Leben mit sich, gewollt oder nicht, unmöglich gemacht wird – im offenen oder heimlichen, sich selbst oder anderen verheimlichten Selbstruin kommt dies zum Ausdruck. Oder als Null-Beziehung der Gleichgültigkeit , einer lediglich funktionalen Beziehung zu sich, bei der die diversen Teile des Selbst nur ihre Funktion erfüllen, unbekümmert um ihr Zusammenwirken.
Alternativen hierzu sind die Varianten der affirmativen Selbstbeziehung : Um ein gesuchtes Zusammenwirken geht es den verschiedenen Teilen des Selbst bei der Selbstbeziehung der Kooperation , wenngleich ohne allzu große innere Beteiligung. Eine vertraute und zugleich sehr freie Selbstbeziehung ist die Freundschaft mit sich selbst, die noch genauer zu betrachten sein wird. Eine sich damit überschneidende Beziehung ist das intime Selbstverhältnis der Liebe zu sich selbst, wenn auch mit denGefahren, die jede Intimität in sich birgt: Abhängigkeit, Selbstfixierung, Selbstverliebtheit. Alle diese Formen können auch von einem agonalen Aspekt durchzogen sein, der zudem selbst zu einer eigenen Art von Beziehung, einer Streit-Beziehung werden kann: nicht nur gelegentlich »mit sich zu kämpfen«, sondern beständig im Streit mit sich zu liegen, immerhin aber nicht gleichgültig gegen sich zu sein. Muss man zudem von einer neuen, virtuellen Selbstbeziehung sprechen, bei der das Selbst sich wesentlich über den Aufenthalt im virtuellen Raum der Möglichkeiten und der elektronischen Medien definiert? Es scheint jedoch so zu sein, dass alle Virtualität doch wieder zur Realität, mithin zu einer der genannten Formen von Selbstbeziehung tendiert.
Mögliche Kriterien für die Realisierung einer bestimmten Selbstbeziehung können Lebbarkeit und Schönheit sein, aber selbst diese Kriterien sind eine Frage der Wahl, also der Option. Vielleicht hängt das Leben davon ab, eine Beziehung zu sich selbst eingehen zu können, die es ermöglicht, sich zu erfahren und zu spüren in allen Nuancen, an sich selbst zu zweifeln und zu verzweifeln, letztlich aber sich nicht im Stich zu lassen und nicht sich zu verlieren, sondern sich um sich zu sorgen. Der Anstoß dazu geschieht durch beängstigende und befremdliche Erfahrungen, entscheidend aber ist, ob dieser Anstoß aufgenommen
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