Mit sich selbst befreundet sein
Selbst immer wieder irritiert ist, vom Leben, vom Zusammenstoß mitanderen, verirrt wie Odysseus, in Tränen aufgelöst, in Verzweiflung verloren. In der Selbstbesinnung wendet das Selbst sich im doppelten Sinne auf sich, um sich im sinnlichen Fühlen ebenso wie im gedanklichen Prozess wahrzunehmen und sich klarer zu werden, was mit ihm »ist« und »möglich ist«, welche Kräfte in ihm wirksam sind und welche Wünsche in ihm schlummern, welche Möglichkeiten, die noch zu wecken sind. Die Selbstbesinnung ist eine Vergegenwärtigung der Eigenheiten und Fremdheiten, Stärken und Schwächen, des Könnens und Nichtkönnens, Vermögens und Unvermögens, der Gewissheiten und Ungewissheiten, der Widersprüche und Befürchtungen, Vorlieben und Abneigungen, Geschichten und Gewohnheiten, Misslichkeiten und Missverständlichkeiten, der Grenzen des Selbst und ihrer möglichen oder unmöglichen Überschreitung. Mit der Selbstbesinnung gewinnt das Selbst Distanz zu sich, um sich wie von außen zu sehen; die Distanz ermöglicht ein Fühlen und Überdenken dessen, was für wichtig und unwichtig, für schön und bejahenswert oder für hässlich und verneinenswert gehalten wird; ein Auseinanderlegen seiner selbst, um sich neu zusammenzufügen. Selbstbesinnung heißt schließlich, wieder an den Zusammenhängen zu stricken, die »Sinn machen« und in deren Netz das Selbst zu leben vermag.
Die Intensivierung der Selbstbesinnung geschieht im bewussten Selbstgespräch . Es ist, wie jedes Gespräch, selbst eine Form von Aufmerksamkeit und steuert deren Richtung; nicht alles kommt dabei in gleicher Weise in den Blick. Das Selbstgespräch ergibt sich meist von selbst, entscheidend ist jedoch, ob ihm bewusst Raum gegeben wird und ob sich die problematische Form eines bloßen Kreisens in sich selbst verhindern lässt. Es handelt sich um einen inneren Diskurs , der in aller Regel nicht geordnet und nicht »zielführend«, vielmehr chaotisch und ziellos ist. Gegenstand ist das Innere : Was ist los mit mir? Welche Stimmen melden sich in mir zu Wort? Was bedeuten sie? Und das Äußere , wiederum jedoch in Bezug auf das Innere: Was geschieht? Was bedeutetdas für mich? Wie kann ich darauf antworten? Auf diese Weise verständigt sich das Selbst mit sich selbst. Das Protokoll eines lebenslangen Selbstgesprächs findet sich beispielsweise in den Notizheften Nietzsches, deren kritische Edition daher von besonderem Wert ist, um den Prozess genau zu studieren. Das Ich »hört in sich hinein«, wird aufmerksam auf die Stimmen, in denen Gedanken, Ideen, Ängste, Enttäuschungen, Visionen, Faszinationen, Träume sprechen, nicht immer in deutlich vernehmbarer Sprache, häufig in der Form eines »guten« oder »unguten« Gefühls, einer Stimmung oder vagen Idee. Das vorgestellte Ich stellt Fragen an das gegebene und umgekehrt, und innerhalb des einen wie des anderen tragen Gedanken und Gefühle ihre Kämpfe aus, sodass das Selbst »mit sich beschäftigt ist«. Das vorgestellte Ich versucht all das in sich zu repräsentieren, was im gegebenen wirklich vorkommt, und kann doch nicht darauf hoffen, damit jemals an ein Ende zu kommen; so bleibt das Leben mit sich selbst spannend.
Die Kommunikation mit sich dient letztlich der Klärung dessen, was Selbst ist und sein soll. Diese intrasubjektive Selbstverständigung ist unabdingbar und beansprucht im Zweifelsfall den Primat vor jeder intersubjektiven Kommunikation, um die verschiedenen Teile des Selbst in Bezug zueinander zu setzen und ihre Verhältnisse zu klären. Wie sollte eine aufmerksame Kommunikation mit anderen auch möglich sein, wenn das Ich mit sich selbst nicht zu kommunizieren weiß? Wo die innere Klärung nicht geschieht, dringt dies durch Brüche der Sprache oder Explosionen der Gefühle nach außen. Ein Unwohlsein macht sich breit, wenn die inneren Stimmen im Lärm der äußeren nicht mehr zu hören sind; das Ich fürchtet, »sich zu verlieren« und zieht sich zurück. Das bewusste wie das unbewusste Selbstgespräch bindet Kräfte, die nicht mehr zur Verfügung stehen, wenn das Selbst sich zu sehr nach außen wendet, sich äußert und in anstrengender Verbalisierung verschwendet. Oft kommunziert es allerdings mit sich, indem es mit anderen kommuniziert. Gesprächemit anderen sind in Wahrheit oft Selbstgespräche, ein wechselseitiger Prozess, für den Bettine von Arnim in ihrem Briefroman Die Günderode (1840) ein beeindruckendes Beispiel gibt. Äußere Stimmen werden dabei verinnerlicht, innere
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