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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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spricht hier? Wenn ein Ich, so ist die Aussage über das Ich widerlegt; wenn kein Ich, so ist sie irrelevant, denn niemand hat etwas gesagt. »Es gibt keinen freien Willen.« Spricht der, der hier spricht, freiwillig oder nicht? Wenn freiwillig, so ist die Aussage über den nicht gegebenen freien Willen hinfällig; wenn unfreiwillig, so tendiert der Wahrheitswert der Aussage gegen null, denn wer den freien Willen nicht kennen kann, kann darüber auch nichts aussagen. Abgesehen davon würde ein Beweis der Nichtexistenz des Ich voraussetzen, dass dessen Existenz überhaupt behauptet worden ist. »Ich« ist jedoch nichts als ein Konzept, aus Gründen der Vereinfachungerdacht und im Grunde verzichtbar; nicht auszuschließen, dass dieses Konzept eine neurobiologische Grundlage hat, aber sollte es damit allein schon zu erklären sein?
    3. Wissen ist abhängig von Begriffen, die dazu neigen, sich zu verselbstständigen. Erkenntnisse werden in Begriffe gefasst, in ihnen aufbewahrt, ausgedrückt, mitgeteilt und zur Anwendung gebracht. Begriffe aber entfalten ein Eigenleben, es bedarf daher im Rahmen der epistemologischen Vorsicht auch einer terminologischen Wachsamkeit. Für Begriffe wie »Selbst«, »Unbewusstes«, »Neuron« etc. ist der Bezug zu einem zugehörigen Phänomen nicht gänzlich zweifelsfrei zu bestimmen, denn auch hierfür wäre eine neutrale, Menschen unzugängliche Position außerhalb von Begriff und Phänomen erforderlich. Nur so ließe sich deren Relation (Identität, Ähnlichkeit, Konvergenz, Korrespondenz) zuverlässig feststellen. Nicht auszuschließen, dass ein Begriff wie etwa »Ödipus-Komplex« in die Phänomene einer Kindheitserfahrung erst hineinlegt, was anschließend aus ihnen herausgelesen wird. Auch die Daten einer freien Assoziation ermöglichen keine zuverlässige Erkenntnis des Selbst, denn die verwendeten Begriffe legen einige Erklärungsmuster fest, sodass als »Selbst« gefunden wird, was als solches bestimmt wird: In der Hermeneutik wird dies als »hermeneutischer Zirkel« bezeichnet, der unauflösbar erscheint; kein Wissen scheint frei davon zu sein.
    4. Wissenschaft nimmt nicht die Stelle Gottes ein. Sie ist nicht allwissend und auch nicht auf dem Weg dazu. Nur Gott, falls es ihn gibt, überblickt eine denkbare Gesamtheit des Wissens, die nicht nur aus dem schon erreichten, sondern auch aus allem möglichen Wissen besteht. Menschliche Wissenschaft ist allenfalls in der Lage, zu gegebener Zeit das erreichte, zu keinem Zeitpunkt jedoch das noch nicht erreichte Wissen, folglich auch nicht das Verhältnis zwischen wirklichem und noch möglichem Wissen zu bestimmen. Eine mögliche Annahme ist, dass alles Sein undMenschsein grundsätzlich umfassender ist als all das, was jeweils aktuell davon gewusst werden kann. Weder von der Totalität des Seins noch von der des menschlichen Seins kann Wissenschaft demzufolge je ein vollständiges Wissen gewinnen. – Aufruhend auf der epistemologischen Vorsicht spricht angesichts der Ansprüche, die sich aus dem Wissen für das Selbst ableiten lassen, einiges für Grundsätze einer ethischen Vorsicht :
    A. Eine Perfektionierung des Selbst nicht zu erstreben. Wissen erzeugt den Wunsch nach Veränderung. Das Selbst, das Wissen über sich und sein Leben gewinnt, stellt zwangsläufig die Frage, ob ein gegebener Zustand bestehen bleiben soll. Wenn nicht, wie müsste ein anderer Zustand beschaffen sein? Wie ließe er sich erreichen, mit welchem Einsatz, welchen Folgen? Bei einer Veränderung mit dem Ziel der Verbesserung bleibt es aber letztlich nicht. Träume von einem perfektionierten Selbst und vollendeten Leben werden vielmehr geträumt, wenngleich vergeblich: Jede Verbesserung kann auch eine Verschlechterung sein, und schon aus diesem Grund ist bei aller punktuell und strukturell möglichen Verbesserung von Selbst und Leben die ideale Gestalt und das vollkommene Glück wohl kaum zu erreichen; zumindest wurde die Vollkommenheit in Tausenden von Jahren noch nicht erreicht. Die lineare Fortschreibung der Verbesserung hin zu einem optimierten Endzustand ist eine Idee; wäre sie aber realisierbar, käme es zum Stillstand des Lebens in seiner Vollendung. Was bliebe dann noch zu tun?
    B. Einer Manipulation des Selbst sich zu widersetzen. Wissen ermöglicht Manipulation. Das Selbst wird erklärbar und infolgedessen »ausrechenbar«. Werbestrategien etwa zielen auf das limbische System im Gehirn, um Emotionen direkt anzusprechen. Aber das Selbst ist in der Lage,

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