Mit sich selbst befreundet sein
beziehungsweise »Psyche« entziffert die psychologische Selbsterkenntnis etwa in ihrer tiefenpsychologischen Form Zeichen des Unbewussten und »Verdrängten«. Es handelt sich um den ehrgeizigen Versuch einer »Archäologie« der Antriebskräfte des Selbst, einer Aufdeckung seiner »dunklen Seiten« und der in seiner inneren Geschichte verborgenen Traumata, einer Befreiung des Selbst von unbewussten Mustern. In dieser »Erweiterung« der Selbsterkenntnis sieht Sigmund Freud erklärtermaßen einen Weg, »das geschwächte Ich zu stärken«, zumindest sei dies »der erste Schritt« ( Abriss der Psychoanalyse , 1939). Ein zweiter Schritt müsste für die erlangte Freiheit Formen finden, denn diese stehen keineswegs spontan von selbst zur Verfügung. Möglicherweise aus diesem Grund bemüht Freud den Begriff der Lebenskunst: Die Wahl einer »Technik der Lebenskunst« und die »gewählte Lebenstechnik« erlauben es, mit der Realität zurechtzukommen und sich dem »Glück« zu nähern. An möglichen Techniken nennt Freud vor allem diese: Arbeit und Aktivität, Liebe und Erotik, Ästhetik und die Suche nach Schönem, Selbstliebe und Selbstgenügsamkeit, sogar eine »Flucht in die neurotische Krankheit« ( Das Unbehagen in der Kultur , 1930). Eine Therapie im weiteren Sinne der Sorge und Pflege, so darf manannehmen, würde die individuelle Ausarbeitung einer Lebenskunst unterstützen und die Analyse ergänzen, um nicht ein im Zuge seiner Befreiung aufgelöstes Selbst zu riskieren. Das eigentliche Anliegen der Therapie besteht jedenfalls darin, das Leben als Kunstwerk zu begreifen, das von einem Selbst gestaltet werden kann, dem jedoch die Befähigung dazu erst zu vermitteln ist. Vielleicht wäre mit Kunst und Lebenskunst sogar der Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen eine Analyse mit all ihren Belastungen gewagt werden könnte – oder aber überflüssig würde.
In wachsendem Maße, teils parallel zu einer naturwissenschaftlich orientierten Psychologie, wird das Selbst im Laufe der Moderne jedoch als biologisches Wesen begriffen. Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ist es für die biologische Selbsterkenntnis ein Produkt molekularer und insbesondere neurobiologischer Prozesse: ultimative Befreiung des Selbst von sich selbst. Psychische Zusammenhänge werden zu physiologisch messbaren Funktionen des Gehirns, Gedanken und Gefühle erscheinen als Resultat feuernder Neuronen (Nervenzellen) und kopulierender Synapsen (Verbindungen zwischen Nervenzellen), mentale Vorgänge sind neuronal bestimmt. Ein eigenständiges, sich selbst gestaltendes Selbst existiert nicht, dessen freier Wille ist eine Illusion. Im Gehirn ist eine neuronale Aktivität messbar, das so genannte Bereitschaftspotenzial, dann erst wird ein »Selbst« sich seiner »Wahl« bewusst, die es glaubt getroffen zu haben, und es fühlt den Anstoß zu einer Aktivität. Spiegel-Neuronen erlauben die Nachahmung des Verhaltens anderer, ermöglichen Einfühlung in sie und Mitgefühl für sie. Wie die psychologische schreibt die neurobiologische Selbsterkenntnis wesentliche Prozesse einem Unbewussten zu: Unbewusst arbeiten die Kontrollzentren, und nur ein geringer Teil dessen, was im Gehirn vor sich geht, wird jemals bewusst. Niemand ist im Grunde verantwortlich für sein Tun, denn »Ich« ist nur die ausführende Instanz dessen, was im Unbewussten sich entwickelt hat. Eine Therapie lässt sich chirurgisch und medikamentös durchführen, mit Eingriffenan spezifischen Zentren und mit dosierten Gaben bestimmter Stoffe. Auf dem Wege der biochemischen Erregungsübertragung kann sodann »Glück« den Menschen durchströmen, der sich dies törichterweise selbst zuschreibt, aufgrund eines Mangels an Selbsterkenntnis, genauer: mangelhafter Kenntnis der Wirksamkeit von Neurotransmittern (Hormonen) wie Adrenalin und Dopamin, Melatonin und Serotonin.
Beinahe lässt sich von einer objektiven , wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis des Selbst sprechen, der sich die subjektive Selbsterkenntnis zu fügen hat. Viele psychologische und neurobiologische Erkenntnisse unterminieren die autonome Gestalt des Selbst. Erkenne dich selbst : Ich selbst bin also nichts weiter als ein zufällig oder schicksalhaft zustande gekommenes Konglomerat von Genen und Proteinen, Neuronen und Spiegel-Neuronen, Synapsen und Hormonen, von Unbewusstem, mehr oder weniger geglückten Beziehungen, Kindheitserinnerungen, traumatischen Erfahrungen, Gefühlen, Trieben, Begierden, kaum aber von Überlegungen und
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