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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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sōphrosýnē ), nebst Weisheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit (Dialog Alkibiades I ). Diese Selbsterkenntnis wird zur Grundlage der Selbstsorge und führt dazu, mit »Sorge und Kunst« die Seele zu pflegen und ihre besten Eigenschaften auf exzellente Weise im individuellen und gesellschaftlichen (politischen) Leben zu verwirklichen. Innerhalb der Seele lässt sich jedoch, späterer stoischer Auffassung zufolge, ein Leitendes und Führendes ( hēgemonikón ) als eigentliches Selbst lokalisieren: der lógos , die ratio , das vernünftige Denken, die nüchterne Überlegung eines Menschen, dasjenige also, was den unberechenbaren Affekten, Begierden und Leidenschaften nicht folgt. Diese Rationalisierung der Selbsterkenntnis führt allerdings zu der radikalen Forderung, einer Perfektionierung des Selbst wegen all das zu eliminieren, was die Herrschaft des Hegemonikon in Frage stellen könnte. Die Anfänge einer hypochondrischen Selbstbeobachtung, misstrauischen Selbstüberwachung und manischen Selbstverdächtigung, die auf stoischer Grundlage im Verlauf der abendländischen Kulturgeschichte zuweilen rücksichtslos und nachgerade wütend betrieben worden ist, finden sich hier.
    In christlicher Zeit führt dies zur weiter gehenden Forderung, »die irdischen Glieder abzutöten«, das alte, weltliche und selbstische Selbst überhaupt zurückzulassen zugunsten eines neuen, Gott geweihten und somit eigentlichen Selbst. Es gibt nichts Eigenes mehr an diesem Selbst: Von allem Eigenen ist es zu reinigen, um es für Gott bereit zu machen und es ihm schließlichanzuvertrauen. Was an ihm noch eigen ist, ist in seiner Hinfälligkeit und Nichtigkeit zu erkennen: theologische Selbsterkenntnis . Die Verwirklichung der Verleugnung des Selbst ( árnēsis heautoũ , Matthäus 16, 24, Markus 8, 34, Lukas 9, 23), die als Bedingung der Nachfolge Christi gilt, wird im 4. Jahrhundert n. Chr. in den Längeren Regeln des Kirchenvaters Basilius ausdrücklich dem Mönchtum mit auf den Weg gegeben. Für lange Zeit gerät das selbstbewusste Selbst damit in den Generalverdacht des Sündhaften, das heißt von Gott und den Mitmenschen Abgewandten. Da keinem Selbst zu trauen ist, muss ein »Seelsorger« instituiert werden, der ihm die Sorge um sich abnimmt, seine Selbstbezogenheit auflöst und seine Seele zuverlässig zu Gott führt. Und zugleich wird das Mönchtum und mit ihm das Christentum gerade aufgrund der Selbstverdächtigung zu einer unvergleichlichen Schule des Selbst, der kognitiven Selbstaufmerksamkeit, der Selbstreflexion, des Selbstgesprächs, der asketischen Selbstgestaltung und Selbstmächtigkeit.
    Eine Folge dieser Entwicklung, mit der zugleich die stoische Rationalität fortgeführt wird, ist die asketisch herbeigeführte, kognitiv ausgerichtete cartesianische Selbsterkenntnis , wie sie im 17. Jahrhundert von René Descartes begründet wird. Das wahre Ich ist demzufolge methodisch im reinen Denken zu finden, in der res cogitans , gereinigt von Konventionen, Gewohnheiten, Träumen, Trieben, Körperlichkeit und jedweder Sinnlichkeit. Das Ich ist eine Substanz, »deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendeinem materiellen Dinge abhängt« ( Discours de la méthode , 1637). Das ego cogito in seiner bewusst betonten Körperund Weltlosigkeit allein verbürgt eine Gewissheit, die nicht mehr zu bezweifeln ist, und erfüllt somit in den Augen Descartes’ die wichtigste Bedingung dafür, ein »klares und gesichertes Wissen« fürs Leben zu erlangen: »Ich war der festen Überzeugung, dass es mir dadurch gelingen würde, mein Leben weit besser zu führen, als wenn ich nur auf alten Fundamenten baute«. Was sich darausentwickelt, ist allerdings die Begründung einer Wissenschaftlichkeit im Umgang mit sich selbst, wie sie für die gesamte Neuzeit und Moderne prägend geworden ist und zur Geringschätzung abweichender Selbstkonzepte abseits dieses Kulturkreises geführt hat.
    In moderner Zeit, insbesondere im 20. Jahrhundert und weit ins 21. Jahrhundert hinein reichend, wird aus der Selbsterkenntnis eine eigene wissenschaftliche Bewegung, geistes- wie naturwissenschaftlich, eingegliedert in den modernen Prozess der Befreiung. Von Anfang an wird dabei die theoretische Deskription des Selbst um eine therapeutische Intervention ergänzt, die das jeweilige Selbst gemäß den allgemeinen Erkenntnissen analysiert und korrigiert. In dessen Seele, wie sie anfänglich noch genannt wird,

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