Mit sich selbst befreundet sein
philosophischen, theologischen, cartesianischen, psychologischen, biologischen Selbsterkenntnis können als mögliche Aspekte in die hermeneutische Selbsterkenntnis integriert werden, ohne die Wahrheit des Selbst damit zu identifizieren. Auf das allgemeine wie das je eigene Selbst richtet sich die hermeneutische Selbsterkenntnis auf eine Weise, über die letztlich das jeweilige Selbst entscheidet: autonome statt heteronome Selbsterkenntnis. Nicht um eine Wissenschaft, sondern um eine Hermeneutik des Selbst geht es dabei – Michel Foucault hat damit in seinen Vorlesungen von 1982 die Verfahrensweise eines Selbst bezeichnet, das sich wesentlich von der Sorge um sich leiten lässt, um sich selbst zu konstituieren und zu gestalten.
Die Hermeneutik als Kunst der Deutung und Interpretation beansprucht nicht etwa ihrerseits Wahrheit für sich; Skepsis gegenüber sich selbst und ihren Resultaten gehört vielmehr zu ihrem Programm. Sie geht davon aus, dass ein Phänomen nicht mit einer einzigen Erklärung zu verstehen ist, schon gar nicht das Phänomen des Selbst. Daher versucht sie, sich ihm von verschiedensten Seiten mit Deutung und Interpretation zu nähern: innere Hermeneutik des Selbst . Nicht wirklich geht es bei der hermeneutischen Selbsterkenntnis um Erkenntnis im vollen Sinne des Wortes, denn der Lebensvollzug kann nicht aufgeschoben werden, bis die Erkenntnis des Selbst abgeschlossen ist. Dem trägt die provisorische, operable Selbstkenntnis Rechnung, die den Kriterien von Plausibilität und Evidenz genügt, als Resultat einer reichhaltigen Erfahrung und kritischen Betrachtung seiner selbst, um sich über sich klarer zu werden. Michel de Montaigne hatdiesen Prozess exemplarisch in seinen Essais vorgeführt; die Tradition der Moralistik, in der die Lebenskunst neuzeitlich beheimatet ist, geht darauf zurück. Alle Selbstaufmerksamkeit und Selbstbesinnung, alle Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst zielt auf ein Kennenlernen dessen, was als gegebenes »Selbst« vorgefunden wird. Das Selbst prüft sich im Denken, im Fühlen und im Vollzug der Existenz, um auf der Basis seiner Erfahrung mit relativer Gewissheit von sich sagen zu können: »Ich kenne mich.« Es achtet auf die Grenzen der möglichen Klärung und Aufklärung des Selbst und respektiert sie, statt immer weiter »in sich zu dringen«, mit dem Risiko der Selbstverletzung und Selbstzerstörung. So ist die Selbstkenntnis die moderate und pragmatische Form der Selbsterkenntnis, ihr lebbares Maß, getreu der anderen Forderung des delphischen Tempels: »Nichts im Übermaß.«
Der Strittigkeit des Begriffs des Selbst geht das Bemühen um Selbstkenntnis aus dem Weg, indem es auf das zugehörige Phänomen rekurriert, nämlich die phänomenale Erfahrung, dass so etwas wie ein Selbst sich ängstigt, Bedürfnisse nach Essen, Trinken, Liebe kennt, »Stoffwechsel« vollzieht, Lust und Schmerz empfindet. So etwas wie ein Selbst bedarf eines Bewusstseins, mit dessen Hilfe sich das Leben führen lässt. Dieses So etwas wie lässt sich der Einfachheit halber »Selbst« nennen, um anzuzeigen, dass es in irgendeiner Weise sich zu sich verhalten und mit sich umgehen muss. Selbst ist das, was unweigerlich nicht Sache eines anderen ist; das, was einzig und allein dieses Leben lebt und zu Ende bringt. Auch wenn jeder Ist-Satz in Bezug auf das Selbst problematisch erscheint, so ist dieser Befund doch schwerlich zu bestreiten. Das Selbst bringt Gegebenheiten mit sich, hat Vorstellungen von sich, entwickelt eine Auffassung vom Leben und eine Sicht auf die Welt, die sich nirgendwo sonst finden. Es macht Erfahrungen, die anderen mitgeteilt und für einen Moment mit ihnen geteilt werden können, ihre Gebundenheit an das Selbst aber nie verlieren. Niemand kann ihm irgendwelche Arbeit an sich selbst abnehmen, niemand sonst lebt dieses Lebenals nur dieses Selbst, dem es in seinem Leben um sich selbst geht, selbst wenn es ganz von sich absieht, auch dann, wenn es jeden Umgang mit sich negiert, selbst dann, wenn es »das Selbst« als Illusion erkennt, sogar dann, wenn es selbst dieses Selbst wieder aufhebt oder gar auslöscht. Mag das Selbst eine Illusion sein, so ist es doch eine, die entstanden ist, um leben zu können, und die zu pflegen ist, solange dies sinnvoll erscheint. Durchaus kann Lebenskunst heißen, jeglichem Selbst zu entsagen, aber auch die Selbstentsagung obliegt einer Wahl, und zumindest um diese Wahl treffen zu können, wird es nötig sein, das Selbst zu konstituieren, das
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