Mit sich selbst befreundet sein
fähig ist, sich von sich wieder zu lösen. Dieses operable Selbst zu gewinnen, kann nicht aufgeschoben werden, bis definitiv geklärt ist, ob es ontologisch ein Selbst überhaupt gibt.
Auf der Basis der phänomenalen Erfahrung erst wird das Selbst zum Begriff , der konzipiert wird; ein hermeneutischer Akt der Deutung und Interpretation, keine Feststellung einer Wahrheit. Unter dem Begriff soll hier zweierlei verstanden werden: Zunächst das impulsive, initiale Selbst als derjenige Impuls eines gegebenen Ich, der sich spontan, etwa aufgrund einer Beängstigung, um das Ganze des Ich sorgt. Daraus geht sodann, mit dem Übergang von der ängstlichen zur klugen Sorge, das bewusste, integrale Selbst hervor: eine Angelegenheit des vorgestellten Ich, ein Begriff für das Ganze des Ich, eine »ganzheitliche« Instanz, die auch Unbewusstes mit einbezieht; eine urteilende Instanz, die auf umsichtige Weise die Erhaltung und Steigerung des gesamten Ich im Blick hat; ein innerer Moderator , der die diversen Stimmen zu Wort kommen lässt, die allesamt »Ich« sagen, sie in Bezug zueinander setzt, ihr Gespräch vermittelt, ihren Streit schlichtet, im Zweifelsfall jedoch auch entscheidet. Im Vergleich zum spontanen Ich ist Selbst der umfassendere und reflexivere Begriff. Er umfasst die Vorstellung eines Sich als Medium der Bewusstwerdung und Gestaltung des Selbst: eines Nachdenkens über sich sowie einer Arbeit an sich. Das Sich bezeichnet die Möglichkeit des Selbst, sich wie von außen zu sehen, und ist dieBedingung der Möglichkeit der Reflexivität. In der Nicht-Identität zwischen Selbst und Sich vermag die Selbstreflexion sich einzunisten, mit deren Hilfe das Selbst sich immer wieder neu zu orientieren und zu korrigieren vermag.
Die Hermeneutik des Selbst hält das Bewusstsein wach für das Perspektivische allen Wissens vom Selbst und für den hermeneutischen Zirkel gerade in Bezug auf das Selbst. Gegen dessen völlige Durchschaubarkeit und Ausrechenbarkeit bringt sie das Prinzip der hermeneutischen Fülle in Anschlag, wonach die Wirklichkeit, auch die des Selbst, stets umfassender ist, als die aktuelle Erkenntnis von ihr wissen kann. Es gibt Zeiten, in denen dies der einzig tröstliche Gedanke ist: dass es noch Anderes gibt, dass die Wirklichkeit eine andere sein kann als die, die sich dem momentanen Wissen als einzige darbietet. Hermeneutik heißt, immer aufs Neue nach dem Anderen zu suchen, Zusammenhänge ins Licht zu rücken, die bisher nicht in den Blick gekommen waren, unerwartete Aspekte zu erschließen durch den Prozess der Deutung und Interpretation. So lässt sich Sinn für die Vieldeutigkeit von Selbst und Welt gewinnen, die auf keine Eindeutigkeit zu reduzieren ist. Aus demselben Grund gibt die Hermeneutik dem Selbst auch seine Seele wieder, ein möglicher Akt der Deutung und Interpretation, nicht weil die Rede von einer »Seele« sehr genau, sondern hinreichend ungenau bestimmt ist. Sie ist somit hermeneutisch ergiebiger und evoziert ein Mehr an kreativen Vorstellungen als das nüchterne Konzept der Psyche in den Psychowissenschaften. Der Verzicht auf die Rede von der Seele hat sich nicht bewährt – spätestens im Verzicht ist zu bemerken, wie sehr sie fehlt, auch wenn niemand genau zu sagen weiß, was sie denn sei. Womöglich bleibt alle Rede vom Selbst und seiner Seele provisorisch und »unterdeterminiert«, aber gerade der Begriff der Seele hat noch nie beansprucht, zu einer definitiven Erkenntnis zu führen: Eine innere Unendlichkeit eröffnet sich vielmehr aufgrund ihrer hermeneutischen Unerschöpflichkeit etwa bei Heraklit (»Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindigmachen«, Fragment 45) und bei Novalis (»Nach innen geht der geheimnisvolle Weg«, Blütenstaub , Fragment 16).
Selbstkenntnis ist dabei keineswegs nur durch Introversion zu gewinnen, sondern mindestens ebenso sehr durch Extroversion , die Wendung nach außen, die Erfahrung in unterschiedlichen Lebenssituationen und Begegnungen, auf die das Selbst zu reagieren hat und sich dabei selbst erst kennen lernt. Da die Hermeneutik stets Umfeld und Kontext eines Phänomens im Auge behält, meint eine Hermeneutik des Selbst nicht nur die von ihm auf sich, sondern auch auf andere und »die Welt« gerichtete Deutung und Interpretation, um Menschenkenntnis und Weltkenntnis zu erlangen, eine Kenntnis der Regelmäßigkeiten, mit denen zu rechnen ist: äußere Hermeneutik des Selbst . Innere und äußere Hermeneutik sind miteinander vermittelt:
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