Mit sich selbst befreundet sein
sich diesen Zusammenhang klar zu machen und sich »limbisch abzublocken«. Psychologisches Wissen wiederum birgt die Versuchung in sich, das jeweilige Selbstden Erkenntnissen gemäß zurechtzumachen. So entsteht ein therapeutisches Selbst, das gleichsam in vorauseilendem Gehorsam all die Begriffe und Formeln gebraucht, die ihm nahe gelegt werden: Es will »sich einbringen«, will »nichts verdrängen«, ist bemüht »loszulassen« und »Trauerarbeit zu leisten«. Keine Frage, dass dies für den Lebensvollzug sinnvoll sein kann – jedoch jeweils als Option, nicht als Norm. Das Selbst kann auf die therapeutischen Vorgaben antworten, indem es sich das zugrunde liegende Wissen zu Eigen macht, um wählerisch damit umzugehen oder ihm auf erfinderische Weise auch wieder zu entkommen.
C. Die Übernahme von Verantwortung nicht zu negieren. Wissen kann, wenn es Wahlfreiheit verneint, Verantwortung aushebeln. Wahl und Verantwortung mögen menschliche Erfindungen sein, jedoch durchaus brauchbare Erfindungen. Sie in selbsttätige neuronale Netze aufzulösen, könnte das Selbst bei einer anstehenden Wahl vergeblich darauf warten lassen, dass »es zuckt«. Selbst wenn ein Handeln neuronal und unbewusst gesteuert ist, sind die Konsequenzen dennoch mit der gesamten eigenen Existenz zu verantworten, von anderen Existenzen ganz abgesehen. Im sozialen Raum leistet die Verneinung einer Wahlmöglichkeit und Verantwortlichkeit lediglich einer Freiheit der Beliebigkeit Vorschub: Alle Taten und Untaten lassen sich nun mit einem Kindheitstrauma oder Serotoninmangel erklären, statt den Zustand der Unbewusstheit durch die Anstrengung einer Bewusstmachung zu ändern. Bereits vorweg können Täter die Erklärung ihres Tuns sehr bewusst auf psychologische und neurobiologische Muster abstellen. Die Opfer aber werden nur Zynismus darin sehen.
D. Die Selbsterkenntnis im Maß zu halten. Wissen kennt keine Grenzen; das gilt erst recht für das Wissen vom Selbst, das zu keinem Zeitpunkt an ein Ende kommt. Grenzen findet die Selbsterkenntnis nur in ihrer Lebbarkeit, denn es gibt nicht nur einZuwenig, sondern auch ein Zuviel an Wissen oder vermeintlichem Wissen über das Selbst. Zweifellos gehört es zur Selbstsorge, unbewusste Zusammenhänge aufzudecken, um ihnen nicht gänzlich ausgeliefert zu sein, vielmehr sie der Reflexion verfügbar zu machen und Optionen des Umgangs damit auszuarbeiten. Die Gefahr besteht jedoch darin, mit dem übermäßigen Bewusstsein davon den Vollzug der Existenz zu verstellen: Was ist noch Unbewusstes, wenn es »zergrübelt«, was Begehren, wenn es »zerredet« worden ist? Bei der Analyse und Übersetzung in Diskurs ein Maß zu beachten erscheint sinnvoll, um das Selbst nicht zu einer »austherapierten« Gestalt werden zu lassen, die zur Synthese , zu irgendwelcher Kohärenz nicht mehr finden kann. Ein Maß bestünde darin, Wissen nur dann, wenn es plausibel erscheint, wählerisch zu gebrauchen; Wissen vom Unbewussten nur so weit, wie es den Charakter des Anderen, Fremden, Unerhörten, Überraschenden und Faszinierenden nicht gänzlich unterläuft; schließlich aber Aufgedecktes dem Unbewussten auch wieder zurückzugeben. Und sich selbst ein Geheimnis zu bleiben, schon um das Interesse an sich selbst aufrechtzuerhalten, und über aller Selbsterkenntnis die Arbeit der Selbstgestaltung nicht sträflich zu vernachlässigen.
Selbstkenntnis und Hermeneutik des Selbst
Was das Selbst »eigentlich« ist: Diese Frage muss offen bleiben. Von Interesse ist das Bekenntnis des Neurobiologen James H. Austin, der nach dreißigjähriger Forschungstätigkeit am Ende seines Buches Zen and the Brain (1998) Bilanz zieht: »Was haben wir gefunden? Komplexe Verhältnisse.« Die historische Abfolge von Erkenntnissen in Bezug auf das Selbst belegt vor allem dies: dass es sich um ein wenig fassbares Etwas handelt. Das legt die Vermutung nahe, es jeweils mit Konzepten zu tun zu haben, von denen keines die eine und reine Wahrheit des Selbst für sich allein beanspruchen kann. Wenn aber der Anspruch einer objektivenErkenntnis des Selbst nicht aufrechtzuerhalten ist, wird die Verfertigung eines eigenen Konzeptes, das den Lebensvollzug anleitet, zur Aufgabe der Lebenskunst jedes einzelnen Selbst. Diese Verfahrensweise folgt selbst einem weiteren Konzept, nämlich dem einer hermeneutischen Selbsterkenntnis , das jedoch ausdrücklich als Option, nicht als Norm zu verstehen ist. Die historisch ausgearbeiteten Konzepte der anthropologischen,
Weitere Kostenlose Bücher