Mit sich selbst befreundet sein
dessen Bezogenheit auf eine Gemeinschaft, in seiner Gottergebenheit und Schicksalsgläubigkeit kommt es zum Tragen, während in der modernen Kultur das Selbstverständnis darin besteht, Individuum zu sein, Freiheit als Befreiung zu realisieren und Glück als Maximierung von Lust zu erstreben. Wie ein Selbst sich selbst versteht, ist von diesen Mustern abhängig, die es nicht selbst erfunden hat, denen es womöglich jedoch ausgeliefert ist. Für die bewusste Lebensführung kommt es darauf an, so weit wie möglich diese Muster zu durchschauen und darüber zu entscheiden, ob sie so oder anders auszufüllen oder durch eigene Vorstellungen zu ersetzen sind. Mit seiner Sorge bemüht das Selbst sich auf diese Weise um ein Verständnis seiner selbst, das ihm die Gestaltung seiner selbst ermöglicht. Über die kognitive Selbsterkenntnis und hermeneutische Selbstkenntnis hinaus wird damit das Feld der asketischen Selbstgestaltung eröffnet.
Arbeit an innerer Festigkeit: Selbstgestaltung, Selbstmächtigkeit
Jedes Selbst ist ein Mensch, nicht jeder Mensch jedoch ein Selbst, wenn Selbstsein bedeutet, das eigene Leben bewusst führen zu können. Sobald ein Selbst entsteht, ist es eine prekäre Erscheinung des menschlichen Seins: Einmal entstanden, erweist es sich als äußerst zerbrechlich. Es zerbricht in Erfahrungen, die es nicht bewältigen kann. Ausgerechnet in der Moderne, die zu seiner Befreiung so viel beigetragen hat, bleibt es im Modus der Zerstreuung, Zersplitterung und Verzweiflung zurück. Was »Denken« genannt wird, ist zuweilen ein Schlachtfeld der Gedanken; was »Seele« genannt wird, ein Schlachtfeld der Gefühle; selbst die Muskeln zerstreiten sich und produzieren Verkrampfung. Die »multiple Persönlichkeit« erscheint nicht mehr als pathologische Ausnahme, eher als Regelfall modernen Selbstseins. Die moderne Auflösung von Zusammenhängen, die das Selbst an sich selbst erlebt, erfährt es als Sinnlosigkeit seiner selbst und der Welt, sodass die Arbeit an inneren und äußeren Zusammenhängen zur Gründung von »Sinn« wird, sofern sich das Selbst als solches behaupten möchte. Die negative Freiheit der Befreiung, die zu seiner Unbestimmtheit und Auflösung führt, ist um die positive Freiheit der Formgebung und die damit verbundene Bestimmtheit und Festigkeit zu ergänzen, Bestandteil der Arbeit an einer anderen Moderne. Keineswegs bewahrt diese Arbeit das Selbst sicher vor einem Verlust seiner selbst, sie macht diesen nur weniger wahrscheinlich, soll er nicht umgekehrt riskiert oder gar gesucht werden.
Wie aber ist eine Formgebung in Bezug auf sich selbst vorstellbar? Was kann ein einzelnes Selbst schon tun, das morgens mühsam aufsteht und sich durch den Tag schleppt, bevor der sich, kaum begonnen, schon wieder seinem Ende zuneigt? Selbstgestaltung erfordert zuallererst Selbstverfügung, den Gewinn von Macht über sich selbst , um den sich das Selbst bemüht. Macht lässt sich verstehen als Potenz und Akt der Einflussnahme auf etwasoder jemanden, auf ein Verhalten oder Verhältnisse, hier die des Selbst. Sie ist ein Können und Vermögen, und es zeigt sich nun, dass Macht sehr viel mit Kunst zu tun hat, denn wie diese entfaltet sie sich auf den bereits beschriebenen drei Ebenen des Könnens: Auf der Ebene der Möglichkeit geht es darum, ein Potenzial, eine Kompetenz etwa in Form von Wissen und Kenntnis, ein virtuelles Können in diesem Sinne zu erschließen. Auf der zweiten Ebene wird die Potenz zum Akt und führt zur Realisierung des Potenzials, um den schwierigen Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit oder vom Wissen zum Handeln zu bewerkstelligen, ein reales Können in diesem engeren Sinne. Auf der dritten Ebene der Macht kommt es darauf an, die Wirklichkeit gekonnt zu realisieren, sie mit viel Übung, Feingefühl und genauer Kenntnis der Einzelheiten kunstvoll ins Werk zu setzen, ein exzellentes Können im eigentlichen Sinne. Empfindet das Selbst Ohnmacht in Bezug auf sich selbst, so wäre zu fragen, auf welcher der drei Ebenen sie angesiedelt ist, um sich um das entsprechende Können zu bemühen.
Alle drei Ebenen des Könnens und somit der Macht sind mithilfe von Asketik zu realisieren, mit Einübung und Gewöhnung, griechisch áskēsis , womit ein umfangreiches Feld mehr oder weniger detaillierter Übungen und ausdifferenzierter Einzelkünste gemeint ist. Alle Übung ist ein Prozess des Lernens, beginnend mit einem vorsätzlichen, ausdrücklichen Lernen, übergehend zu einem
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