Mit sich selbst befreundet sein
selbstverständlichen Lernen, das durch immergleiche Wiederholung geschieht, beispielsweise beim Schreibenlernen: Ein virtuelles Können ist durch die Einübung der Buchstaben zu gewinnen, ein reales Können entsteht mit der Übung beim Schreiben ganzer Texte, das exzellente Können ist abhängig von sehr viel Übung beim eigenständigen Verfassen von Texten. Alles lässt sich üben, an alles kann ein Selbst sich gewöhnen, wenn auch mit einer kaum zu bemerkenden Winzigkeit Tag für Tag, die ihre Wirkung erst im Laufe der Zeit entfaltet. Asketik teilt den Weg zu einem Ziel in überschaubare Proportionen undEtappen ein, lässt mit zahllosen Einzelschritten eine Strecke gehen, baut eine Treppe mit der erforderlichen Anzahl von Stufen. Ein Kyniker wie Diogenes gewöhnte sich durch die Übung vor einer Steinstatue, die er um ein Almosen bat, daran, abgewiesen zu werden. Astronauten, Kosmonauten, Taikonauten gewöhnen sich lange vor ihrem Flug an das Leben in einer extrem fremdartigen Umgebung und werden vertraut mit ihr: Übung schafft Gewöhnung, diese wiederum Vertrautheit. Der Vollzug von Übungen ermöglicht, theoretische Überlegungen praktisch auszuprobieren und wichtige Erfahrungen zu sammeln, denn in der Praxis verhalten Dinge und Menschen sich unvorhersehbar anders als in der Theorie gedacht, und zwar aufgrund des komplexen Ineinanderwirkens zahlloser Zusammenhänge: Deren Wechselwirkung ist nicht vorweg berechenbar, kennt aber Regelmäßigkeiten, die im Verlauf der Übung in Erfahrung zu bringen sind. Vieles im Leben, auch Unangenehmes und Missliches, lässt sich als Übung begreifen, mit der das Selbst an sich arbeiten, sich gestalten und für ein künftiges Leben präparieren kann. Die Übung kann mühsam sein bis zur Entsetzlichkeit, aber es lockt ein enormer Gewinn: ein Können.
Eine Asketik als Kunst der Übung ist unverzichtbar, um Möglichkeiten einer Verfügung über sich und ein Können im Umgang mit sich zu gewinnen. Immer geht es dabei um Selbstüberwindung , nämlich eines Teils des Selbst gegenüber einem anderen, vermittelt vom integralen Selbst und umgesetzt mithilfe der Übung. Es handelt sich um einen Eingriff in das innere Machtspiel, das mithilfe einfacher, alltäglicher, ja banaler Übungen am besten gelingt, exemplarisch beim Umgang mit den Lüsten, die von Natur aus mit Macht zum Übermaß tendieren: Welcher Teil des Selbst hat Macht über welchen anderen, ein heißes Bedürfnis oder eine kühle Überlegung? Mit Asketik lässt sich das je eigene Maß finden: nicht weil das Übermaß ein moralisches Übel wäre, sondern weil es, wie an alltäglichen Lüsten zu erfahren ist, den Lüsten selbst Feind ist. Im Widerstreit zwischenkognitiver Besinnung und affektiver Leidenschaft ist der Besinnung Raum zu geben durch die Übung, alle Grade zwischen einem Zuviel und Zuwenig der Lüste auszuschöpfen. Mit der Selbstüberwindung entsteht Selbstmächtigkeit , die Möglichkeit, Ansprüche in sich im Maß zu halten, nicht abhängig zu sein von anderen, die die Befriedigung von Bedürfnissen versprechen und somit Macht über das Selbst ausüben. Selbstmächtigkeit jedoch nicht im Sinne von Selbstbeherrschung oder Selbstherrschaft : Herrschaft meint eine einseitige, nicht umkehrbare Machtbeziehung, etwa des Denkens gegenüber den Gefühlen – oder der Gefühle gegenüber dem Denken. Selbstherrschaft ist wohl immer auch Selbstfeindschaft, denn wo Herrschaft ist, dort entsteht Feindschaft. Dem Hochgefühl von Macht auf der einen entspricht die Erfahrung von Ohnmacht auf der anderen Seite, die »zu kurz kommt« und früher oder später dafür sich rächt.
Dies zu verhindern, ist die Aufgabe der Selbstmächtigkeit, die das wechselseitige Spiel der Macht aufrechterhält. Das aber heißt, die verschiedenen Teile des Selbst in ihrer Bedeutung anzuerkennen, sie in Bezug zueinander zu setzen, in das Machtspiel einzubeziehen und darauf zu achten, dass die Auseinandersetzung von keiner Seite aus ruinös geführt wird. Man kann geradezu von einer Innenpolitik des Selbst sprechen, einer Organisation der inneren pólis des Selbst. Dazu dient das Selbstgespräch mit dem Ziel der Selbstverständigung, die mithilfe bekannter Methoden der Teilung der Macht zustande kommt: Kompromiss, Ausbalancierung, Gewaltenteilung, Prioritätenbildung. Das Werk, auf das die Sorge sich letztlich richtet, ist das Wir im Selbst, eine Selbstbeziehung zumindest in der Form der Kooperation der verschiedenen Bestandteile des Selbst. Die
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