Mit sich selbst befreundet sein
Selbstkenntnis ist eine Voraussetzung dafür, andere und die Welt kennen zu lernen; die Erfahrung des Eigenen verleiht Sensibilität für andere und Anderes und ermutigt zur Offenheit. Umgekehrt befördert die Menschen- und Weltkenntnis wiederum die Selbstkenntnis, denn in der Begegnung mit anderen und Anderem lernt das Selbst sich als ähnlich oder unterschiedlich kennen. Aspekte des Selbst werden freigesetzt, von denen es noch nichts wusste; sie fanden sich nicht in der Vorstellung, die es von sich hatte, und gehören doch zum Gegebenen, faszinierend oder enttäuschend, vielleicht sogar so enttäuschend, dass andere für die Enttäuschung verantwortlich gemacht werden. In jedem Fall lernt das Selbst in der Erfahrung, im Austausch und in der Auseinandersetzung mit anderen sehr viel über sich, ein nie abgeschlossener Prozess, in dessen Verlauf es nicht nur zum Studienobjekt für sich selbst wird, sondern zum Teil auch erst entsteht, um dann kennen gelernt zu werden.
Die Kenntnis des gegebenen Selbst ist die Voraussetzung für einen klugen und sensiblen Umgang mit sich selbst. Alle Aspekte der Selbstkenntnis und Selbsterfahrung, des Selbstbewusstseins und Selbstgefühls münden in ein Selbstgespür , in dem körperliches Befinden, seelisches Empfinden, kognitives Wissen und Erfahrungim Umgang mit sich selbst wie mit anderen und »der Welt« integriert werden. Ein Gespür für sich zu haben heißt, das Gegebene an sich selbst sehr gut zu kennen, aber auch Möglichkeiten für sich aufzuspüren, seien es erfreuliche oder bedrohliche; ferner das Richtige in einer Situation zu erspüren und an dessen gekonnter Realisierung zu arbeiten. Dieses Gespür für sich ist, wie jedes andere, nicht einfach schon gegeben, sondern zu erwerben und immer weiter zu verfeinern durch Erfahrung sowie deren Reflexion, die im Selbstgespräch und im Gespräch mit anderen geschieht. Die Bereitschaft, Fehler zu machen und daraus zu lernen, führt zur Erweiterung und Vertiefung des Gespürs. Je besser es bestückt ist, desto selbstgewisser arbeitet es, wie jedes Gespür, und zwar selbsttätig – eine mögliche Erklärung für die Herkunft der »Bereitschaftspotenziale« im Gehirn. Wenn die moderierende Instanz des integralen Selbst der Klugheit und »höheren Weisheit« bedarf, dann kann sie sich dafür des Gespürs bedienen.
In Bezug auf das gegebene wie auch das mögliche Selbst wird in der Hermeneutik des Selbst schließlich ein umfassendes Selbstverständnis formuliert, um sagen zu können: »Ich verstehe dies und jenes als mein Selbst.« Die Zusammenhänge, die den Sinn des Selbst ausmachen, werden zum Teil auf diese Weise hergestellt. Oft geschieht dies auf metaphorischem Weg, unter Zuhilfenahme von Bildern, die hermeneutisch ergiebiger sind als Begriffe. Das jeweilige Selbstverständnis kommt in den verwendeten Metaphern zum Ausdruck, folgt jedoch deren innerer Logik: Agonale Metaphern von Kampf, Auseinandersetzung, Sieg und Niederlage des Selbst. Poristische Metaphern vom Weg, der gegangen wird und der vielleicht das Ziel ist, vom Vorgehen Schritt für Schritt, von Um- und Abwegen oder vom nicht gefundenen Weg und der damit verbundenen Ratlosigkeit. Arithmetische Metaphern vom Kalkül, der Berechnung und Bilanz. Architektonische Metaphern von Fundamenten, Mauern und Fenstern des Selbst. Floristische Metaphern vom Wachsen undGedeihen, Blühen und Verblühen. Sportive Metaphern vom Training, vom Wettlauf und von der Konkurrenz. Nautische Metaphern vom schützenden Hafen, vom einsamen Schiff auf hoher See und vom Schiffbruch, der vielleicht erlitten wird. Energetische Metaphern von der »Power« und all dem, was elektrisiert. Technische Metaphern vom Motor, der »rund läuft« oder stottert, vom Programm, Umprogrammieren, Einloggen und Durchchecken. Kosmische Metaphern von der Strahlkraft eines Sterns, von Umlaufbahnen und Schwarzen Löchern: um nur einige Bilder zu nennen, zwischen denen das Selbst wählen kann und dies bewusst tun sollte, denn die Implikationen der Metaphernfelder wirken auf das Selbstverständnis zurück.
Ein Selbstverständnis zu finden ist unabdingbar für die Gestaltung und Veränderung seiner selbst; es kann zum Korrektiv für das gegebene Ich und zum Leitbild seiner Selbstgestaltung werden. Aber zunächst ist es vorgeprägt von Kultur, Tradition, Religion, Gesellschaft, Milieu, auch von Werbefeldzügen. In vorund nichtmodernen Kulturen ist es bedingt von Traditionen, auf die ein Einzelner keinen Zugriff hat; in
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