Mit sich selbst befreundet sein
ein Hinnehmen und Lassen, ein eigenes Gestalten wie auch ein Sich-Gestaltenlassen von anderen, von Umständen und Situationen. Das Tun wird auf das konzentriert, worüber überhaupt verfügt werden kann, das Lassen aber obliegt dem Bekenntnis zur eigenen Ohnmacht, der Gelassenheit und Hinnahmefähigkeit, um sich nicht um Dinge zu bemühen, über die das Selbst nicht verfügen kann oder will. Nicht absolut, nur relativ , nicht durchgängig, nur punktuell wird die Selbstbestimmung auf dieser Grundlage geltend gemacht, um sich ganz auf den Bereich ihrer Möglichkeit zu konzentrieren und die Vergeblichkeit im anderen Bereich sich zu ersparen. Immer dort, wo es möglich ist, und nur dann, wenn es sinnvoll erscheint, besinnt das Selbst sich auf sich selbst und folgt der eigenen Überlegung, auch dem eigenen Gespür anstatt den vorgefundenen Vorgaben. Vor allem das Gespür, das sich aus Erfahrung und ihrer Reflexion ergibt, legt dem Selbst nahe, zu welcher Zeit, in welcher Situation, unter welchen Bedingungen, mit welchen Mitteln und wem gegenüber die Selbstbestimmung geltend zu machen wäre.
Durchkreuzt wird die Macht der Selbstbestimmung von blanker Ohnmacht aber im Falle einer Verletzung des Selbst. Ob sie geschieht oder nicht, liegt nur bedingt an ihm; alle kluge Vorsorge verbürgt keine Immunität dagegen. Zwar träumt es von einem nie gefährdeten Leben, absolut abgesichert gegen alles – aber ob dies ein lebenswertes Leben wäre, ist ungewiss. Abgesehen von Schürfwunden, die nur an der Oberfläche kratzen, gräbt jede Verletzung sich tief ins Innere des Selbst hinein. Schon kleinere körperliche, erst recht seelische Verletzungen stellen es insgesamt in Frage. Mit einem Schnitt ins Fleisch, mit einer ins Schloss geworfenen Tür, in der eine Fingerkuppe zurückbleibt,mit einem bösen Wort zerreißt im selben Augenblick das Gewebe des Alltags, der Gewohnheiten, der Gewissheiten; die festgefügte Integrität des Selbst bricht auf. Der Riss legt das nackte Leben bloß: traumatische Erfahrung, sich selbst als dermaßen verletzbar zu erfahren, mit einem Mal zu wissen, dass das Leben auf Schritt und Tritt bedroht ist, dass dies das ganze Leben hindurch so bleiben wird, dass ein kleines Versehen, eine Unbedachtheit, ein zufälliges Zusammentreffen, eine einzige gute oder ungute, absichtslose oder absichtsvolle Handlung so enorme Konsequenzen nach sich ziehen kann; dass unterhalb der Oberfläche des alltäglich gelebten Lebens Abgründe, auch Abgründe menschlichen Unvermögens sich auftun.
Am Selbst jedoch liegt es zu bestimmen, wie damit umzugehen sei: sich aufzulehnen, wenn auch vergebens, oder sich zu fügen und somit Kräfte zur Bewältigung zu gewinnen. Der verlorenen, wohlgefügten Welt wird zunächst noch nachgetrauert, Vorwürfe an sich selbst und andere besetzen das Denken und Fühlen; die neue Wirklichkeit will kaum wirklich erscheinen und ist es doch. Alles soll wieder so sein, wie es war, und kann es doch nicht. Die unmittelbare Bewältigung ist so anstrengend, dass eine bleierne Müdigkeit das Selbst überkommt, um es von den Mühen des Bewusstseins zu erlösen. So vergeht die Zeit, die heilt, da mit der Entfernung vom fraglichen Zeitpunkt der distanzierte Blick von außen wieder möglich wird. Mit dessen Hilfe vermag das Selbst sich ins Verhältnis zum Geschehenen zu setzen, das nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann; als Ereignis ist es im Gedächtnis zu behalten und als Narbe am Körper oder in der Seele der Kohärenz des Selbst einzugliedern, ja diese Kohärenz ist erst wieder herzustellen. Das Selbst beginnt am zerrissenen Gewebe seiner selbst wieder zu stricken, das alltägliche Leben neu einzurichten, in diesem Rahmen das, was ihm widerfahren ist, zu durchdenken, zu erzählen, zu deuten und zu interpretieren, um ihm schließlich »Sinn«, also Zusammenhang und eine feste Stelle in seinem Leben zu geben. Dasgeschieht teils unbewusst und im Schlaf, teils, wenn es als Aufgabe begriffen wird, sehr bewusst. Ein starkes Selbstgefühl resultiert daraus, die Abgründigkeit des Lebens erfahren zu haben und zugleich die enormen Kräfte, körperlich, seelisch und geistig, die im Selbst wohnen und die zur Bewältigung der abgründigen Erfahrung in der Lage sind, kennen zu lernen; auch zu erfahren, welche Bestärkung andere vermitteln können. Sinn aber gewinnt die Erfahrung vor allem dadurch, dass sie die Frage nach dem »wahren Sein« aufwirft.
Sorge um Wahrheit: Was ist das »wahre Sein«?
Als ich sie zum
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