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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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als das Arsenal der Werkzeuge und Techniken nun bereitsteht, aber kann es damit auch arbeiten? Beim bloßen Zustand des Befreitseins kann es nicht bleiben, denn das Leben bedarf einer neuen Bestimmung, einer Form, in der es gelebt werden kann. DieAnstrengung der Befreiung wird übertroffen von der Mühe der Freiheit im Sinne von Formgebung . Selbstbestimmt, »autonom«, ist nicht schon das Selbst, das sich befreit, sondern erst dasjenige, das zur Formgebung aus Freiheit, zur »Selbstgesetzgebung« in der Lage ist, denn das ist der Wortsinn der Autonomie : sich selbst ( autós ) das Gesetz ( nómos ) zu geben. Schwieriger noch als die Befreiung ist die Formgebung, die sich nicht mehr vom Vorgegebenen abheben, nicht mehr nur Widerstand und Widrigkeit zum Gegenhalt nehmen kann, sondern selbst zu einer Setzung und Umsetzung kommen muss. Die Autonomie besteht darin, die Gestaltung von Selbst und Leben selbst in die Hand zu nehmen, anhand von Regeln, die, wie in der modernen Kunst, nicht mehr einer Tradition oder Konvention entlehnt werden können oder sollen, und wenn doch, dann nur aufgrund freier Wahl. »Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht«, erkennt Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse (IX, 262), »wo das größere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt , das ›Individuum‹ steht da, genötigt zu einer eigenen Gesetzgebung«.
    Ist eine Selbstbestimmung aber wirklich möglich? Verfüge ich über die Freiheit dazu? Nimmt dieser Ansatz nicht eine Freiheit des wählenden Subjekts in Anspruch, die so gar nicht existiert? Ist nicht »alles determiniert«? Sind nicht überall Verschwörungen gegen das Selbst im Gange, von anderen, von ganzen Systemen? Habe ich nicht zu tun und zu lassen, was andere und insbesondere »die Umstände« von mir fordern? Zuweilen erscheint es so, als sei in manchem Weltbild die Rolle Gottes von der »Fremdbestimmung« übernommen worden: Unantastbar, allüberall, alles überblickend, alles steuernd. Vermutlich trifft dies zum Teil zu, zum Teil nicht. Wie es sich in Wahrheit verhält, wird kaum je zweifelsfrei zu klären sein, schon gar nicht von den Verschwörern selbst, die sich ja ihrerseits wiederum nur gegen üble Verschwörungen verschwören. Zweifellos gibt es irgendwelche Fremdbestimmung, Heteronomie , und dies nicht in geringemMaße: ökologisch, biologisch, psychologisch, sozial, kulturell, ökonomisch, politisch. In vielfacher Weise wird Einfluss auf das Selbst genommen, auf Schritt und Tritt erfährt es Bestimmung durch andere, durch anonyme Strukturen und Institutionen. Vorhersagbar ist das Resultat dennoch nicht, die betroffenen Selbste erweisen sich vielmehr als eigensinnig; die Unverfügbarkeit, wie das Spiel im Einzelfall ausgeht, kann als Indiz für eine mögliche Selbstbestimmung gewertet werden.
    Ob Selbstbestimmung wirklich möglich ist, lässt sich nicht beweisen, nur annehmen. Die Behauptung, dass es eine selbstbestimmte Freiheit der Wahl »gibt«, ist ebenso schwer zu begründen wie die gegensätzliche, dass es sie »nicht gibt«. Letztlich erscheint die Frage unentscheidbar, entscheidbar wohl nur aus einer Gottesposition, die Menschen nicht zur Verfügung steht. Aus der Sicht der Lebenskunst liegt es jedoch nahe, für die Annahme zu optieren, dass es so etwas wie Freiheit gibt und dass das Selbst, wenngleich verhängnisvoll verstrickt, in vielen Fällen eine wirkliche Wahl zu treffen hat. Es ist möglich, ein solches Selbstverständnis zu formulieren und dies zum Bestandteil der eigenen Kohärenz zu machen: nicht um Fremdbestimmtheit und Bedingtheit gegenstandslos zu machen, sondern um dem Selbst etwas zuzutrauen und sogar zuzumuten. Entscheidend ist letztlich die Haltung , mit der es durchs Leben gehen möchte: Sich von Verschwörungen umstellt zu sehen und sich von dieser Sichtweise das Leben rauben zu lassen – oder diesen Gedanken zurückzudrängen, um sich wenigstens zeitweilig frei wähnen zu können und Autonomie schon mal zu erproben, nur für den Fall, dass sie sich doch noch als möglich erweisen sollte. Nur unter der Annahme von Selbstbestimmung kann es auch Selbstverantwortung geben. Diese wahrzunehmen statt abzuweisen heißt, nicht mehr unentwegt andere für sich verantwortlich zu machen, wie Menschen in Gesellschaften des Wohlstands sich dies in wachsendem Maße angelegen sein lassen – ein Mangel an Selbstverantwortung fast wie in fatalistischen Kulturen, in denen »dasSchicksal«, in welcher Gestalt auch

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