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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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immer, alle Last auf seinen Schultern trägt. Wer aber jede Möglichkeit von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung bezweifelt, hat zweifellos ebenfalls eine selbstbestimmte Wahl getroffen – und sie selbst mit seiner Existenz zu verantworten, denn trotz allem lebt niemand sonst dieses Leben als nur das Selbst selbst.
    Ist es aber nicht schrecklich, ständig selbst wählen und bestimmen zu müssen? Hilfreich ist, sich die Alternative vor Augen zu führen: Ein Leben ganz ohne Wahl und Selbstbestimmung könnte schrecklicher sein. Gleichwohl liegt eine Fremdbestimmung nicht nur in den »guten« oder »bösen« Absichten anderer begründet, sondern auch in der begrenzten Kapazität einer Selbstverfügung des Selbst: Es wäre aufwändig, immer und überall nur selbst und über sich selbst bestimmen zu müssen. Um die Kräfte konzentrieren zu können, erscheint es wichtig, eine antike Unterscheidung wieder aufzugreifen und sich generell und im Einzelfall zu fragen: Was steht in meiner Macht und was nicht; was liegt »an uns« ( eph’hēmin ) und was liegt »nicht an uns« ( ouk eph’hēmin )? Die Unterscheidung, die in der epikureischen und stoischen Philosophie, etwa in Epiktets Handbüchlein ausgearbeitet wurde, sollte das Selbst entlasten von allem, was nicht eigenes Werk, vielmehr abhängig von anderen und vom Schicksal ist, etwa Körper, Besitz, Ansehen; um sich zu konzentrieren auf das Eigene, insbesondere das eigene Meinen und Vorstellen, den eigenen Blick auf die Dinge und Verhältnisse, deren Deutung und Interpretation, die »von Natur aus« frei ist und über die das Selbst allein verfügt. »Nicht an uns« waren in dieser Sichtweise die prágmata , die Dinge in ihrer Wirklichkeit; »an uns« jedoch die dógmata , die Vorstellungen, die das Selbst sich davon macht. Die Dinge sind demzufolge, wie sie sind, nur in der Vorstellung werden sie als »gut« oder »schlecht« beurteilt, abhängig vom Selbst, dessen Macht das Regieren und Dirigieren seiner Vorstellungen ist. Das Selbst tut freilich gut daran, sich mit seinen Interpretationen nicht zu weit von Evidenz und Plausibilität derDinge zu entfernen; eine zu große Entfernung würde die Lebbarkeit des Lebens in Frage stellen.
    Für das moderne und andersmoderne Selbst wäre der Umfang dessen, was in seiner Macht steht und was nicht, neu zu vermessen. In höherem Maße als in antiker Zeit könnten Körper und Besitz in seiner Macht stehen, vom sozialen Ansehen könnte es in geringerem Maße abhängig sein. Aber jede Sorge um den Bereich dessen, was in seiner Macht steht, geht davon aus, dass es sich in einem Prozess der Bewusstwerdung um seine mögliche Freiheit bemüht. Und im selben Maße, in dem es sich über all das, was nicht in seiner Macht steht, klarer wird, ist es zum freien Umgang auch damit in der Lage: diesen Stand der Dinge zu akzeptieren oder nicht. Will es eine Erweiterung seiner Macht erreichen, bedarf es über die Bewusstwerdung hinaus sodann einer asketischen Anstrengung , ausgehend von der Frage, was es selbst bereit ist, für seine erweiterte Freiheit zu tun. Das gilt schon in Bezug auf sich selbst: »Meine Gefühle sind stärker als ich« – aber eine Gegenmacht, wenn sie wünschbar erschiene, wäre in einem asketischen Prozess einzuüben. Oder in Bezug auf die Ansprüche anderer: »Ich muss Leistung bringen« – aber nur insoweit gehobene eigene Ansprüche ans Leben gestellt werden, die zu reduzieren einiger Entbehrung bedürfte. Oder in Bezug auf anonyme Verhältnisse: »Man kann sowieso nichts ändern« – möglicherweise, aber es käme auf den Versuch dazu an, abhängig vom Grad der Bereitschaft des Selbst, sich dafür einzusetzen.
    Selbstbestimmung kann nicht im Ernst bedeuten, über das Selbst und sein Leben vollständig verfügen zu wollen, es sei denn bei einer Abwahl des Lebens. Der Anspruch auf absolute Verfügung wäre der überhebliche und ohnehin vergebliche Versuch, andere, die mitspielen, und das Andere, das zuwiderläuft, aus dem Leben ausschließen zu wollen. Ein souveränes Selbst ist keineswegs dasjenige, das überall und jederzeit vollkommen frei über sich selbst bestimmen kann, sondern dasjenige, das relativeKlarheit darüber gewinnt, wo Selbstbestimmung möglich ist und wo nicht. Souverän ist es darin, das eine vom anderen unterscheiden zu können und sich auch bestimmen zu lassen statt immer nur selbst bestimmen zu wollen . Denn Selbstbestimmung ist ein aktiver ebenso wie ein passiver Prozess, ein Tun ebenso wie

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