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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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zu sein« und wahrhaft zu leben? Die Philosophie selbst weiß kaum Rat, denn ihre eigene Geschichte ist eine einzige Abfolge diskursiv gefundener und wieder entschwundener Wahrheit. Im Hinblick auf den Lebensvollzug kommt es aber nicht so sehr auf diskursive Wahrheit an, die im Wettstreit der Argumente erschlossen wird, sondern auf existenzielle Wahrheit , die sich im Vollzug der eigenen Existenz manifestiert und fortan nicht mehr ohne weiteres bestritten werden kann. »Wahres Sein« ist diejenige Wahrheit, die gelebt werden kann, mit allem Risiko, das letztlich nur von demjenigen zu tragen ist, der dieses Leben lebt; mit Eigensinn und Widerständigkeit, wo immer es nötig erscheint; mit Umgänglichkeit und Verbindlichkeit, wo immer es sich als möglich erweist. In Wahrheit zu leben kann nur heißen, dasjenige Leben zu realisieren, das nach bestem Wissen und Gewissen, nach langer Überlegung und immer neuem Abwägen für das richtige gehalten und mit dem gesamten Lebensvollzug verantwortet werden kann. Keine objektive , sondern eine subjektive Wahrheit steht dabei inFrage, »stimmig« für das Selbst, verbunden mit einer Wahl, die zu treffen ist, und einer Bereitschaft, dieser Wahl zu folgen und nicht darauf zu warten, dass andere zu denselben Einsichten kommen wie das Selbst: nicht nur, weil darauf lange gewartet werden kann, sondern auch, weil die eigenen Einsichten fehlerhaft sein könnten. In diesem Sinne wahrhaftig zu sein gegenüber sich selbst: Darin ist der Sinn zu finden, der mehr als alles andere leben lässt und Ressourcen und Kräfte zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe auch große Schwierigkeiten und Belastungen zu durchstehen sind.
    Die Frage nach dem »wahren Sein« hat vor allem heuristischen Wert. Sie dient dazu, stets aufs Neue auf die Suche zu gehen, um ein anderes als nur funktionales Lebensverständnis zu finden, denn eine so verstandene Technik des Lebens könnte wohl kaum als »Lebenskunst« gelten. Mit der Frage nach dem wahren Sein wird das Leben selbst zur Kunst, und diese Kunst ist »die wichtigste und zugleich schwierigste und vielfältigste, die der Mensch je auszuüben vermag«, wie Erich Fromm meinte. Die künstlerische Arbeit im Umgang des Selbst mit sich selbst und seinem Leben verglich er, wie schon die antiken Philosophen, mit der Arbeit eines Bildhauers oder Arztes: » In der Kunst des Lebens ist der Mensch beides; er ist der Künstler und ist gleichzeitig der Gegenstand seiner Kunst. Er ist der Bildhauer und der Marmor, der Arzt und der Patient« ( Psychoanalyse und Ethik , 1947). Ein signifikanter Unterschied der philosophisch verstandenen Lebenskunst zur »Kunst des Lebens« bei Erich Fromm betrifft jedoch die Auffassung vom Sein, das er dem Haben gegenübergestellt wissen will. Muss es in einer Lebenskunst um das reine Sein im Unterschied zu einem bloßen Haben gehen? Ist sie in diesem Sinne eine »Kunst des Seins«?
    Aber die Gegenüberstellung von Sein und Haben erscheint problematisch, denn das Sein, das ohne Haben nur für sich existiert, ist nichts als eine Idee. Um Wirklichkeit zu werden, muss das Sein »aus sich herausgehen«, und sobald es in diesem Sinne ist ,ist es ein Haben , nämlich dieser und jener Eigenschaften. Das Sein artikuliert sich im Haben. Selbstsein heißt, Empfindungen, Gedanken, Interessen, Meinungen zu haben, die diesem Selbst zu Eigen sind. So gesehen macht es keinen Sinn, vom Sein als einer Existenzweise zu sprechen, »in der man nichts hat und nichts zu haben begehrt« (Erich Fromm, Haben oder Sein , 1976), auch wenn diese Sichtweise eine gewisse Tradition hat: Reflexionen über das Sein des Menschen, auf das ein Haben keinen Einfluss haben soll, finden sich schon in Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit (1851). Sinnvoller als vom Haben zum Sein zu kommen erscheint, den Schwerpunkt des Habens vom materiellen zum ideellen Haben zu verschieben, eine Aufgabe der Lebenskunst des jeweiligen Selbst. Ferner in das materielle Haben selbst eine ideelle Komponente einzuführen: Übergang vom bloßen Verbrauch (»Konsum«) zum Gebrauch dessen, was man hat. Und schließlich dem materiellen Haben ein Maß zu geben, ihm Grenzen zu setzen, und das kann heißen: sich im kalkulierten Verzicht zu üben.
    Eine bemerkenswerte Diskussion über den Sinn des Habens fand bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts statt, ausgelöst von Max Stirners Buch Der Einzige und sein Eigentum (1845). Stirner aktualisierte im Grunde nur die stoische Selbstaneignung, griechisch

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