Mit sich selbst befreundet sein
oikeíōsis , wenn er sagte, es komme darauf an, über sich selbst zu verfügen, » sich auszuarbeiten und zu gestalten«, um ein eigenes Leben führen zu können. Für seine Überlegungen wurde er jedoch geächtet von den Denkern des Sozialismus, deren alleinige Aufmerksamkeit dem materiellen Eigentum galt, von dessen Abschaffung sie sich die Revolutionierung aller Verhältnisse versprachen: Das Hohngelächter von Marx und Engels ( Die deutsche Ideologie , 1845/46) erstarb erst 1989 auf den Lippen derer, die ihr Leben als ihr Eigentum reklamierten. Es ist freilich eine offene Frage, ob die Gesellschaftsform, die übrig blieb, nicht noch perfidere Methoden kennt, ein Leben zu enteignen. Darüber wüsste Mariah Carey vielleicht einiges zu berichten, so vielsogar, dass verständlich würde, warum sie den ultimativen Schnitt vollziehen wollte, der zuletzt noch bleibt, um sich selbst zu Eigen zu sein – wenn auch um den Preis, das eigene Leben zugleich zu beenden. Diesen Schritt tun zu können und ihn doch zu lassen, ist im Grunde eine erste Selbstaneignung des Selbst, aus der ein selbst gewähltes Leben folgt. Die Selbstsorge wird damit geltend gemacht, neben der irgendwelche Millionen, mit denen das Selbst angeblich »ausgesorgt« hat, völlig verblassen. Ideelle Selbstaneignung zu erreichen, scheint freilich schwer zu sein, leichter erscheint vielen die Steigerung des materiellen Eigentums.
Ob Mariah Carey die Möglichkeit wahrgenommen hat, sich ihr Leben in höherem Maße selbst anzueignen, für sich da zu sein und ein »Privatleben« neu zu begründen, muss offen bleiben. Man macht sich vermutlich einen falschen Begriff von der Autonomie eines solchen Menschen, der von Beratern, Managern und »Freunden« umstellt ist, ohne Chance, sich selbst zu definieren, statt immer nur definiert zu werden. Warum war ihr Plattenvertrag so gut dotiert? Weil der Kauf der Eigentumsrechte an ihrer Person damit verbunden war. Im gewöhnlichen Leben werden Kompromisse gemacht, »Arbeitsverträge« genannt: Man übereignet einem »Arbeitgeber« einen Teil seiner selbst und erhält dafür als »Arbeitnehmer« ein Entgelt. Wenn aber die Enteignung des Selbst total wird? Gänzliche Selbstenteignung durch Forderungen und Erwartungen anderer: Das ist nicht nur ein Problem des Star-Seins. Der Verlust ihres Vertrages, der sie zum Aufziehpüppchen machte, schien ein Gewinn an Selbstaneignung für Mariah Carey zu sein. Der Weg zur großen Sängerin wäre endlich frei gewesen. Vorausgesetzt, es wäre ihr darum gegangen, diejenige Schönheit ausfindig zu machen, die sich nicht darin erschöpft, nur ein oberflächlicher ästhetischer Reiz zu sein, sondern das Bejahenswerte darstellt, um dessentwillen es sich zu leben lohnt.
Sorge um Schönheit: Plädoyer für eine ästhetische Ethik
Denn die Frage nach »Schönem« dürfte wohl die zentrale Frage für jedes Selbst sein: Was ist schön? Was ist ein schönes Leben? Ist das Leben für mich schön? Gibt es überhaupt Schönes für mich? Was genau ist in meinen Augen schön? Zu den existenziellen Erfordernissen menschlichen Lebens gehört, über Schönes zu verfügen, an dem das Leben orientiert werden kann. Dass die Seele desjenigen, der nichts Schönes kennt, zugrunde geht, davon ist jedenfalls so manche Kultur überzeugt. Zwar lässt sich daraus nicht zwingend auf eine Notwendigkeit des Schönen schließen, im Zweifelsfall wäre für die eigene Existenz sogar experimentell zu erproben, ob ein Leben ohne Schönes nicht doch möglich ist: Eine schönheitsabstinente Zeit gibt darüber mehr Aufschluss als ein gedankenlos übernommener Grundsatz. Dann aber, wenn das Selbst des Schönen bedarf, wäre zu klären, wo es denn zu finden ist.
Schönes begegnet dem Selbst zunächst als kulturelles Muster : Aufgrund von Prägungen, die sich in der jeweiligen Kultur im Laufe der Zeit entwickelt haben oder von momentanen Modebewegungen beeinflusst und medial vermittelt werden, wird etwas als schön empfunden und wahrgenommen. »Schönheit« ist, was als solche vorgestellt und dargestellt wird. Sie kann im Stil des Lebens, des Wohnens, der Kleidung, in einem »Lifestyle« oder einer Idee von einem »Dreambody« zum Vorschein kommen. Aber das Selbst kann sich bei seiner Suche nach Schönem der Marktförmigkeit auch gänzlich entziehen. Seine Lebenskunst kann darin bestehen, gerade dem nicht zu folgen, was konventionell oder traditionell mit dem Anschein des Selbstverständlichen als »schön« ausgezeichnet wird.
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