Mit sich selbst befreundet sein
Gesicht hab’ ich schon im Traum geliebt, in diesem Blick liegt etwas, was mich zu Tränen bewegt, diesem Wesen muss ich nachgehen, ich muss ihr Treue und Glauben zusagen; wenn sie weint, will ich still trauern, wenn sie freudig ist, will ich ihr still dienen« ( Goethes Briefwechsel mit einem Kinde , 1835). Es ist Selbstliebe, sich sagen zu können: Ich werde dir treu sein und immer bei dir sein, alle Schwierigkeiten stehe ich mit dir durch, du kannst dich auf mich verlassen. So kommt es zur Gründung einer starken Beziehung zu sich, die »Sinn macht«, während Beziehungslosigkeit Sinnlosigkeit heißt. Die Liebe zusich lässt sich bis zur Intimität steigern, die lange währt: »Sich selbst zu lieben«, so Oscar Wilde in An Ideal Husband (1895), »ist der Anfang einer lebenslangen Romanze.« In der prosaischen Realität des romanhaften Lebens mit sich sind freilich, wie bei jeder Liebe, Schwankungen zu gewärtigen: Die Selbstliebe lässt an Intensität nach, bleibt zuweilen aus, verkehrt sich auch mal in ihr Gegenteil, den Selbsthass. Das sind die Zeiten, die nur zu überstehen sind, wenn die Romantik um eine Pragmatik ergänzt wird: sich einer Sache zu widmen, einem Ziel, der Erfüllung selbst auferlegter oder übernommener Pflichten, dem Anliegen eines anderen Menschen, der Pflege von Gewohnheiten und Ritualen, von denen das Selbst im Zweifelsfall verlässlicher und kontinuierlicher getragen wird als von der wankelmütigen Liebe.
Bleibt nur die Frage, wie die Selbstfreundschaft oder gar Selbstliebe von Selbstsucht , Egozentrik und Narzissmus zu unterscheiden ist. Ist der Übergang nicht fließend? In Anlehnung an Aristoteles lässt sich jedoch ein klares Unterscheidungsmerkmal benennen: die Zwecksetzung. Ist die Selbstliebe nur Selbstzweck, so handelt es sich um Egozentrik, eine narzisstische Selbstliebe . Sie kann problematisch sein, nicht so sehr aus moralischen Gründen, sondern aus Gründen des Selbstverhältnisses, denn sie befördert den Einschluss des Selbst in sich und führt zur Selbstbeziehung im Modus der Selbstbezogenheit. Ermöglicht die Selbstliebe aber die Beziehung zu anderen, erst recht die Beziehung der Freundschaft und der Liebe, so handelt es sich um eine altruistische Selbstliebe . Sie vermittelt die Ressourcen, auf andere zuzugehen und für sie da zu sein, eine Selbstbeziehung im Modus der Zuwendung zu anderen. Wer sich auf diese Weise liebt, ist zu freien Beziehungen zu anderen in der Lage und bedarf ihrer nicht nur als Mittel zur Selbstfindung und Bedürfnisbefriedigung. Im selben Maße gewinnen die Beziehungen zu anderen an Reichtum, wenn sie von unmittelbaren Eigeninteressen des Selbst frei sind. Mittelbar kommt dies dem Selbst wieder zugute, denn innerlich reich wird es im Leben letztlich nichtdurch sich selbst, sondern durch andere. Die Zuwendung zu anderen darf daher als ein Akt der Selbsterfüllung erscheinen und muss nicht als Selbstverzicht verbrämt werden. Der Kern der Sorge für andere ist die Sorge für sich selbst, die Selbstfreundschaft und Selbstliebe. Sofern die Freiheit dazu besteht.
Sorge um Freiheit: Ist eine Selbstbestimmung wirklich möglich?
Das Selbst, das noch in starre Bindungen und Identitäten eingebunden ist, kann über sich nicht verfügen und muss es auch nicht: Umgeben von Selbstverständlichkeit bedarf es keiner Selbstsorge. Fraglos erfüllt es die Bestimmungen einer Tradition, Konvention, Religion. Selbstbestimmung wird nur dort zur Möglichkeit oder gar Notwendigkeit, wo diese Bestimmungen das Selbst nicht mehr definieren können oder sollen. Den entscheidenden Schritt unternimmt das einzelne Selbst, wenn es die Wahl trifft, seine Selbstbestimmung zu beanspruchen und wahrzunehmen oder nicht; denn Selbstbestimmung ist keine Norm, sondern eine Option. Eine mögliche Selbstbestimmung könnte auch in der Affirmation vorgegebener Bestimmungen bestehen. Zu deren Negation bedarf das Selbst jedoch einer Freiheit im Sinne von Befreiung, um den Spielraum für ein selbstbestimmtes Leben über das Vorgegebene hinaus zu gewinnen, verbunden mit einiger Anstrengung: »Ach, es ist viel Langeweile zu überwinden, viel Schweiß nötig, bis man seine Farben, seinen Pinsel, seine Leinwand gefunden hat!«, klagt Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches (»Der Wanderer und sein Schatten«, 266): »Und dann ist man noch lange nicht Meister seiner Lebenskunst, – aber wenigstens Herr in der eigenen Werkstatt.«
»Herr in der eigenen Werkstatt« ist das Selbst insofern,
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