Mit sich selbst befreundet sein
Sorge, griechisch epiméleia , durch eine Unbesorgtheit, améleia , und Amélie ist ihr Gesicht und ihre Gestalt. Viele Menschen hat sie in dem Film Die fabelhafte Welt der Amélie (Jean-Pierre Jeunet, Frankreich 2001, Audrey Tautou als Amélie) in ihren Bann gezogen: Ausdruck der Sehnsucht nach einer neuerlichen Romantik, die die Pragmatik ausbalanciert. Was es heißt, das Leben zum Kunstwerk zumachen und als einzelnes Selbst sein Leben dieser Aufgabe zu widmen, sein eigenes Leben und das anderer inmitten aller Pragmatik zu romantisieren, das zeigt dieses moderne Märchen: modern, denn es kommt im aufgeregten Berichtsstil daher, und die kleine Amélie selbst nimmt die Welt nur noch technisch (per Fotoapparat) wahr; märchenhaft, denn sie fotografiert Wölkchen, die wie Häschen aussehen. Ihre Mutter ist Lehrerin, ihr Vater Militärarzt, Kontakte zu ihm unterhält sie über das Stethoskop: moderne Pragmatik. Aber die Erwachsenenwelt erscheint ihr schließlich so bedrohlich, dass sie »lieber ihr Leben träumt«.
An diesem Vorsatz hält die erwachsene Amélie unbeirrt fest. Ihre Arbeit besteht darin, Romantik zu machen , mit aller Geduld und doch mit unbeugsamer Entschlossenheit. Sie liebt es, Details zu entdecken, die niemandem außer ihr auffallen. Ihrer Unbekümmertheit öffnen sich Herzen und Türen, sodass sie Welten kennen lernt, die anderen verschlossen bleiben. Amélie liebt die absurde Seite des Lebens, die mitten im Alltag unerkannt vor sich hin existiert und die doch allein schon das Leben lohnt. Unermüdlich und einfallsreich arbeitet sie daran, das Leben noch absurder zu machen und am bloßen Anblick sich zu delektieren. Daher die aufwändige Arbeit mit dem Gartenzwerg ihres Vaters, den sie entwendet, um seinem Besitzer Fotos von den »Reisen« des Abtrünnigen in alle Welt zuzusenden. Ihre Vorhaben können ohne weiteres misslingen, aber weil das mögliche Scheitern ihr keine Angst einjagt (»das Recht auf ein gescheitertes Leben ist unantastbar«), scheitert sie nicht. Sie hat das Gefühl, »in absoluter Harmonie mit sich selbst zu sein«, und diese starke Selbstbeziehung, diese Selbstliebe ist die nie versiegende Quelle für die Liebe zur ganzen Menschheit, der sie helfen will. Ganz beiläufig ist der Film eine Studie verschiedener Typen von Selbsten und ihrer liebevoll gepflegten Gewohnheiten (Hühnchenfleisch, aber nur ganz bestimmte Fasern!). Das Leben ist schön? Das erscheint abseits der Gewohnheiten, die das Leben sind, nicht denkbar. Das wahre Leben erfüllt sich, wie ein gescheiterter Schriftstellersinniert, im Scheitern? Aber das wahre Leben kennt nur Amélie in ihrer Unbekümmertheit: Sie hat sich aufgemacht, das Leben in allen Ecken und Winkeln zu entdecken und zu erforschen und sogar anzustoßen und nicht darauf zu warten, dass es zu ihr in die Wohnung kommt.
Ist diese Unbesorgtheit und Sorglosigkeit inspiriert von der Bergpredigt, ist sie deren säkulare Variante? Allem Anschein nach geht es in der christlichen Botschaft, wie sie tradiert worden ist, um den Verzicht auf alle Sorge, und manche verstehen dies als wahre Lebenskunst: »Sorge dich nicht, lebe«. Die Annahme liegt nahe, dass dort, wo die Unbesorgtheit gepredigt wird, jene Sorge abgewiesen wird, die als Selbstsorge und Sorge um die eigene Seele seit Aspasia, Sokrates und Platon den Dreh- und Angelpunkt der philosophischen Lebenskunst dargestellt hat. »Sorgt euch nicht um euer Leben«, wie Luther die fragliche Stelle in der Bergpredigt (Matthäus 6, 25) übersetzt, heißt jedoch wörtlich: »Sorgt euch nicht ängstlich um eure Seele«. Nicht das Freisein von jeglicher Sorge, sondern die Befreiung von ängstlicher Sorge ( mérimna ) ist gemeint, und nicht vom Leben, sondern von der Seele ( psychē ) ist die Rede: ein Aufruf dazu, sich nicht von ängstlicher Sorge innerlich lähmen zu lassen. Auch wenn Angst im Leben erfahrbar wird, betrifft sie nicht das Eigentliche der Seele: ein Grundgedanke bereits der philosophischen Lebenskunst. Umso besser lässt sich die kluge Sorge entfalten, die nun auch im christlichen Kontext unverzichtbar ist: Sie ist es, die das Selbst überhaupt erst auf den Weg zum Heil zu bringen vermag – im Rahmen einer Lebenskunst, der es um dieses Heil geht und die darauf vertraut, dass alles, was geschieht, aufgehoben ist in einem größeren Ganzen. Christlicher Auffassung zufolge ist Jesus die Inkarnation dieser Lebenskunst, die sich in weltlicher Form bei Amélie wieder findet.
Unbesorgtheit und
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