Mit sich selbst befreundet sein
Sorglosigkeit lassen sich jedoch weiter steigern bis zum Freisein von jeglicher Sorge. Das geschieht in der Selbstvergessenheit , einer »ekstatischen« Erfahrung im Wortsinne:einem Hinausstehen aus sich, einem »Außersichgeraten«, einer äußerst befremdlichen Erfahrung des Ich im Umgang mit sich. In der antiken Philosophie wie im frühen Christentum ist die Selbstvergessenheit als Form von Sorglosigkeit hinsichtlich des Eigentlichen mit Argwohn betrachtet worden, und doch ist sie ein Element weltlicher wie auch christlicher Lebenskunst: Statt krampfhaft an sich festzuhalten, ermöglicht sie dem Selbst die Erholung von sich. Die Hingabe an eine Sache, einen anderen Menschen, jedoch auch an sich selbst führt zur Selbstvergessenheit. Ein Spiel kann das Selbst in solchem Maße »fesseln«, dass es frei »von sich« wird, frei nämlich von der Enge, in die es geraten ist. Einer konzentrierten Arbeit kann es sich widmen und darüber völlig von sich absehen; eine bewusst gewählte Technik, um gerade nicht über sich nachzusinnen oder endlos ein Problem zu zergrübeln, sondern neu und anders anzusetzen. Einer Leidenschaft kann das Selbst sich dermaßen aussetzen, dass es »sich vergisst«, das heißt, das anstrengende Selbstbewusstsein und Zusammenhalten seiner selbst sein lässt, und sei es nur für einen Moment. Wer selbstvergessen ist, vergisst das Selbst, das mit einiger Anstrengung erarbeitet worden ist, und erfährt ein Selbst im weiteren Sinne, weit über das bestehende Selbst hinaus. Eine extreme Freude und Lust kann damit verbunden sein, ein Glück und ein Reichtum, für dessen Fülle das Selbst gerade dann offen ist, wenn es leer ist von einem Selbst im engeren Sinne. Alle Mystik berichtet von dieser inneren Erfahrung des selbstlos werdenden Selbst: von der Weitung des Blicks, von der Relativierung aller Erfahrung in Raum und Zeit, vom Schwinden äußerer Bedingungen ins Nichts in diesem Moment. Was immer die physiologischen, psychologischen, spirituellen und metaphysischen Gründe dafür sein mögen: Unbestreitbar handelt es sich um eine mögliche Erfahrung des Selbst.
Die Sorge um sich läuft also nicht darauf hinaus, am Selbst um jeden Preis festzuhalten: Sie kann auch bedeuten, sich von ihm zu lösen und Selbstlosigkeit zu leben. Das Selbst ist kein Selbstzweck,es kann verzichtbar sein. Von vornherein verzichtbar ist es in festen Bindungen der Tradition, Konvention, Religion. Unter den Bedingungen der Befreiung hiervon bedarf das Selbst jedoch, um absehen zu können von sich (sofern es diese Option wahrnehmen will), eines willentlichen Selbstverzichts , der ihm ermöglicht, sich anderen und Anderem zuzuwenden, zeitweilig oder dauerhaft, aus gefühlten oder überlegten Gründen. Und zugleich ist dies nicht nur abhängig von einem bloßen Akt der Wahl, sondern auch von der Fähigkeit, die Wahl in die Tat umsetzen zu können. Hat nicht der Meister allen Selbstverzichts, Buddha, in einem langwierigen asketischen Prozess vorgeführt, was es bedeutet, die Verfügungsmacht über sich zu gewinnen, die dazu befähigt, sich von sich lösen zu können? Nach aller Selbstaneignung wird der Höhepunkt der Selbstmächtigkeit zweifellos im Selbstverzicht erreicht: im Verzicht auf alle Selbstmächtigkeit – um daraus eine Erfüllung zu schöpfen, die als wahrhaft glückliches Leben erfahren werden kann. Letztlich kommt dies ja doch wieder dem Selbst zugute, das dabei nicht dasselbe bleibt. So ist seine Bestärkung ebenso möglich wie seine Auflösung, und seine Auflösung durch seine Bestärkung hindurch. Unbesorgtheit, Selbstvergessenheit, Selbstverzicht: Sinnvoll für die Lebenskunst erscheint, über diese Optionen zu verfügen. Die Grundlage dafür bilden jedoch Selbstsorge, Selbstaufmerksamkeit, Selbstgestaltung. An der Sorge des Selbst für sich, körperlich, seelisch, geistig, führt kein Weg vorbei; ihr sind daher noch weitere Konturen zu geben.
Von der körperlichen Sorge
Warum die Pflege des Körpers nicht des Teufels ist
Wenn aber die Angst überwältigend, die Leere beängstigend, die Haltlosigkeit umfassend wird: Wie soll dann die nächste Stunde noch überstanden werden? Der Körper zittert, auch wenn die Angst nur eine des Denkens ist. Wäre die Angst nur ein kognitives Problem, müsste das Selbst nicht ernstlich besorgt sein. Alle Phänomene der Angst befallen jedoch den Körper, der zu zerspringen droht. Und zuletzt ist es wiederum der Körper, der in größter Bedrängnis den Weg zur Rettung weist,
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