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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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näheren Hinsehen als reich gegliederte Landschaft, von weißen Äderchen durchzogen, mag es sich auch nur um nachträgliche Farbrisse handeln. In Serien von Untitled -Bildern malte Mark Rothko Mitte des 20. Jahrhunderts monochromes Schwarz ebenso wie zauberhafte Kontraste verschiedener Farbflächen mit Schwarz. Zu ihrem eigenen Thema macht schließlich Mi-Kyung Lee Schwarz Landschaft (2002), Schwarz-Studien, in die immer neue Schimmer von Grau einfallen und deren Dunkelheit Horizonte nur erahnen lässt; aus einer Wand pechschwarzer Gewitterwolken blitzt, wenn sie aufreißen, grelles weißes Licht hervor; tiefschwarze kosmische Unheimlichkeit treibt unwillkürlich ein Heimatgefühl für den blauen Planeten im Betrachter hervor. Ausdruck von allem und nichts, von Ekstase und Entsagung ist Schwarz in allen seinen Variationen: lichtesund dunkles, stumpfes und glänzendes Schwarz, zerschlissenes, elegantes, nachlässiges, gepflegtes, alltägliches, festliches, erotisches, ernstes, abweisendes, anziehendes, kaltes und samtenes Schwarz, bläuliches, rötliches, gelbliches Schwarz, deren Qualitäten im Kontrast erst hervortreten.
    Einer Übung des Gehörs dient das Hören von Musik, die eine starke sinnliche Erfahrung vermittelt und jeweils eine Komposition von Zusammenhängen, also von Sinn ist, der sich dem Hörenden mitteilt. Eine Möglichkeit zur sinnlich-sinnhaften Übung offeriert die häufige Gelegenheit, Beethovens Neunte zu hören : Das abgründige, brüske und zerklüftete Werk ist das meistgespielte Musikstück der Moderne, und dies wohl nicht von ungefähr, denn eine Vorwegnahme der Geschichte der Moderne und ihrer Widersprüche ist darin zu hören. 1822-24 entstanden, versuchte Beethoven nach politischen Enttäuschungen in diesem Werk mit Engelszungen und Melodien von überirdischer Schönheit, Adagio molto e cantabile , zur Idee der Freiheit zu überreden – und drohte für den Fall, dass die Verführung nicht verfängt, offen mit der Gewalt eines stampfenden, unerbittlich vorwärts marschierenden Rhythmus, der keinen Widerstand bei der Realisierung des modernen Traums duldet: »Alle Menschen werden Brüder«, aber Presto . Die überaus zärtliche Lyrik des dritten Satzes und das heftige, geradezu tyrannische Pochen des vierten; das Auslöschen des voll tönenden Chores mit einer einzigen wegwerfenden Handbewegung, nur um ihn neu und anders wieder einsetzen zu lassen; die Solostimmen, die in schrillen Höhen sich zersingen, nachdem sie zum Weinen schön harmonierten; diese Zärtlichkeit, dieser Zorn, diese Zerrissenheit, die rasende Wut des »Diesen Kuss der ganzen Welt«: Das ist der Musik gewordene Traum einer freien und befriedeten Welt, und eine Ahnung der tragischen Abgründe, die die Freiheit als Befreiung mit sich bringt, aufgerissen von der Auflösung jeglicher Gebundenheit.
    Einbußen erleiden alle Sinne in der Moderne, in besondererWeise jedoch der Geruchssinn , dessen Spektrum sich zunehmend verengt, da das erfolgreiche Zurückdrängen übler Gerüche eine schwächere Wahrnehmung auch der Wohlgerüche zur Folge hat. Jahreszeiten zu riechen ist eine mögliche olfaktorische Übung, die das Selbst schon morgens am offenen Fenster exerzieren kann, um zugleich einen tiefen Atemzug zu nehmen und somit der Sphäre Tribut zu zollen, die ihm Leben gibt: Zu riechen ist die eiskalte Luft, die an den Nasenflügeln kleben bleibt, der süßliche Odor blühender Rapsfelder, der betörende Duft der Kornfelder, der erdige Hauch der Zeit, in der die Blätter fallen. Die Morgenluft ist ein Kind der Nacht: Wenn alle schlafen, streicht sie über taufrische Felder und atmende Wälder; ungestört von Auspuffgasen und Abluftkanälen zieht sie heran, abhängig von der aktuellen Luftströmung; spätestens zur Mittagszeit hat sie sich jedoch buchstäblich in Luft aufgelöst. Daher frühmorgens schon das Durchatmen, bei dem der erste Eindruck der stärkste ist, während mit dem zweiten und dritten bereits die mindernde Gewöhnung beginnt. Wie ein Trunkener ist das Selbst benebelt, berauscht von dem noch jungen Tag, wenn die Luft »gut« ist, ernüchtert, wenn sie »schlecht« ist. Manchmal ist sie geschwängert vom Rauch aus irgendwelchen Kaminen, anheimelnd angeräuchert, manchmal jedoch angesäuert vom hohen Ozongehalt, der in den Nasenwänden beißt. Der Güllegeruch der nahe gelegenen Kläranlage schärft den Sinn für die würzige Luft anderntags, die einen Hauch von frisch geschnittenem Gras mit sich führt, zuweilen

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