Mit sich selbst befreundet sein
auch einen durchdringend frischen Duft naher Kiefernwälder oder ferner Kräuter des Südens, von denen der »chemische Sinn« der Nasenschleimhaut jedes Molekül einzeln goutiert.
Die Übung des Geschmackssinns scheint aufgrund alltäglicher Gelegenheit am nächsten zu liegen. Aber auch ein einfacher Akt wie Schokolade zu schmecken will gelernt sein, und theoretische Kenntnisse sind dabei hilfreich, denn schon die Vorstellung lässt Riegel und Rippen auf der Zunge zergehen und veranlasst dieGeschmacksrezeptoren zu einer Meldung ans Gehirn, das umstandslos in Serotonin zu schwelgen bereit ist; ein überzeugendes Beispiel dafür, welch preiswertes und gesundes Vergnügen die Theorie doch ist. Förderlich für den wirklichen Schokoladengenuss sind Grundkenntnisse in der Konstruktion und Dekonstruktion von Kristallen, hier von Beta-V-Kristallen, die den charakteristischen Geschmack vermitteln und aufs Angenehmste bei Temperaturen abgebaut werden, wie sie im Mundraum herrschen. Außergewöhnlich ist der Genuss, wenn mit der Schokolade das gesamte Selbst dahinschmilzt; entscheidend ist, dass der Augenblick der Auflösung sich lange auskosten lässt und in guter Erinnerung bleibt, misslich hingegen, wenn die Kristalle wegschmelzen wie Schnee und kaum eine Erinnerung an irgendwelches Ereignis hinterlassen. Nur durch Versuche sind die Varianten der Kristallbildung zu erkunden, die dem nachhaltigen Genuss förderlich sind. Vor allem aber kann ein Wissen um die Herkunft der Kakao-Bohnen und den Weg ihrer Verarbeitung zum süßherben Brei die Wahl des Selbst beeinflussen, das dann vielleicht »Zartbitter« statt »Vollmilch« bevorzugt, mit geringeren Fettanteilen und jenen Gerbstoffen, die in den Blutkreislauf gelangen und »aggressive Radikale« von ihrer Beteiligung an der Entstehung schwerer Krankheiten abhalten. Dass aber jede Lust eines Maßes bedarf, ist beim Gebrauch der süßen Lust exemplarisch zu erfahren; auch dass die Einübung ins richtige Maß ein schwieriger Weg endloser Abirrung zwischen einem Zuviel und Zuwenig ist, und dass die Mäßigung dennoch die Bedingung dafür ist, dass aus Lust nicht Unlust wird.
Der in nördlichen im Unterschied zu südlichen Kulturen am meisten vernachlässigte Sinn ist jedoch der Tastsinn ; umso wichtiger erscheint seine Übung, um die durch ihn vermittelte Fülle von Sinn zu erschließen. Unspektakulär und alltäglich kann sie darin bestehen, Oberflächen zu berühren , den eigenen Körper und den Körper anderer, Stoffe aller Art, Materialien im weitesten Sinne, Dinge auf Schritt und Tritt: Tischplatten, Tischdecken,Wände, Bücher, Kleider, über die das Selbst mit den Fingerspitzen flüchtig oder anhaltend streicht und seine Aufmerksamkeit übt, indem es die Beschaffenheit erkundet: warm, kalt, rauh, glatt, geschmeidig, widerständig, sandig, körnig, fest, nachgiebig, leblos, vibrierend, zu weiterer Berührung einladend oder sie zurückweisend. Den Boden kann es mit den Fußsohlen berühren und den ganzen Körper durch eine Bearbeitung der Fußreflexzonen stimulieren. Die tastende Berührung, ermöglicht von den zahllosen Nervenenden der Haut, belebt das gesamte Selbst, das sich so am besten spürt. Jede Berührung hat den Effekt, die körperliche Energie zu aktivieren und in Bewegung zu halten, ein Element der Gesundheit und des Wohlbefindens, und dies nicht erst beim Betasten äußerer Objekte, sondern bereits bei der Selbstberührung durch die Kleidung des Selbst: Nach innen hin ist sie permanente Berührung für den eigenen Körper; ein Grund, sie sorgfältig auszusuchen. Nach außen hin ist sie ein Spiel mit den Gedanken eines erwünschten oder unerwünschten Berührtwerdens durch andere, so wie die Kleidung anderer ebensolche Gedanken des Selbst auf sich zieht oder umgekehrt abweist.
Bei fünf Sinnen bleibt es letztlich nicht. Ein sechster, »propriozeptiver« Bewegungssinn kommt noch hinzu, für den jedenfalls die Neurobiologie zugehörige Areale im Gehirn ausmachen kann. Unter Zuhilfenahme von Informationen der fünf Sinne und des gesamten »Bewegungsapparates« von Knochen, Gelenken, Muskeln, Sehnen vermag das Selbst in jedem Moment seine körperliche Position im Raum in Relation zu anderen Körpern zu bestimmen. Durch regelmäßige Bewegung lässt sich das äußerst komplexe Zusammenspiel von Wahrnehmung und Steuerung verfeinern. Daher die tägliche Übung, sich gehen zu lassen im wirklichen Sinne, denn nicht das denkende Selbst geht, sondern das körperliche,
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