Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
andere Klassen. Wir machen einfach das, was wir im Jahr davor schon gemacht haben, noch mal – nur mit einem anderen Lehrer. Wir kriegen nicht einmal jedes Jahr ein neues Klassenzimmer.
Dieselben Kinder, mit denen ich jetzt zusammen bin, waren also bereits in der zweiten Klasse unter einer Lehrerin namens Mrs Tracy zusammen. Als Drittklässler litten wir gemeinsam unter Mrs Billups, die den Preis für die weltschlechteste Lehrerin verdient hätte.
In unserem Gebäudeflügel gibt es sechs voneinander unabhängige Lerngemeinschaften – Kinder in verschiedenen Verfassungen, vom Kindergartenkind bis hin zu Kindern, die eigentlich schon längst in der Highschool hätten sein müssen.
Unser Klassenzimmer, Raum H-5, könnte vielleicht Babys gefallen, also echt! Er ist gelb und rosa gestrichen. Eine Sonne mit einem lächelnden Gesicht, ein riesiger Regenbogen und ein Dutzend Blumen bedecken die eine Wand. Auf die andere Wand sind fröhliche Häschen, Kätzchen und kleine Hunde gemalt. Rotkehlchen fliegen quer über einen Himmel mit perfekten weißen Wolken. Selbst die Vögel lächeln. Ich bin fast elf Jahre alt und ich glaube, ich muss kotzen, wenn ich mir noch länger kleine Hunde im Paradies anschauen muss!
Ashley, die Jüngste in unserer Gruppe, kotzt tatsächlich ziemlich oft. Sie ist neun, aber sie könnte auch für drei durchgehen. Sie hat den kleinsten Rollstuhl, den ich je gesehen habe.
Sie ist unser Fashion-Modell. Sie ist einfach wunderschön – Augen wie eine Schauspielerin, langes, lockiges Haar und eine winzige Stupsnase. Sie sieht aus wie ein Puppe in einem Karton im Regal, nur hübscher. Ihre Mutter zieht ihr jeden Tag ein perfekt aufeinander abgestimmtes Outfit an. Wenn sie ein pinkes T-Shirt trägt, dann hat sie pinke Hosen an, pinke Socken und zwei winzige pinke Schleifen im Haar. Selbst ihre kleinen Fingernägel sind passend lackiert.
Wenn wir machen, was Lehrer und Therapeuten »Gruppen«-Aktivitäten nennen, kann Ashley kaum teilnehmen. Ihr Körper ist sehr steif und es fällt ihr schwer, etwas zu greifen oder es festzuhalten.
Immer an Weihnachten sollen die Kinder in Raum H-5 einen blöden, einen Meter achtzig großen Styropor-Schneemann dekorieren. Ich weiß nicht, was die Kinder in den normalen Klassenzimmern machen dürfen, aber ich weiß, dass die Weihnachtsfeiertage nahen, wenn das Ding, von egal welchem Lehrer wir das Jahr haben, aus dem Wandschrank gezogen wird.
Mrs Hyatt, die Vorschullehrerin, liebte diesen heruntergekommenen Schneemann. Nichts weiter als drei riesige Kugeln gelblichen Styropors, mit Nägeln und Rohren aneinandergesteckt.
»Auf geht’s ans Dekorieren, Kinder!«, rief sie mit ihrer piepsigen und nervigen Stimme. »Wir werden unsere Deko mit Klett oder Zahnstochern oder Kleber – was auch immer funktioniert – an Sydney, unserem H-5-Weihnachtsschneemann, befestigen!«
Ich weiß nicht, wie alt der Schneemann zu diesem Zeitpunkt bereits war, aber der arme Sydney konnte nicht mehr gerade stehen. Wie ein Betrunkener lehnte er an der Wand, ohne die er überhaupt nicht mehr aufrecht stehen konnte. Mrs Hyatt gab uns grüne Schneeflocken. Grün? Wir waren die dummen Kinder. Wahrscheinlich ging man davon aus, dass es uns egal war. Braune Girlanden. Sterne in Lila und Rosa.
»Gefällt dir der Schneemann, Ashley?«, fragte Mrs Hyatt.
Weil ihr ganzer Körper so steif ist, kann Ashley so gut wie gar nicht kommunizieren. Auf ihrer Kommunikationstafel stehen nur zwei Wörter –
Ja
und
Nein
. Sie drehte ihren Kopf leicht nach links für Nein. Ich wette, sie wünschte sich, das Ding umschmeißen zu können.
Im Vergleich zu Ashley ist Carl riesig. Obwohl er erst neun ist, hat er einen speziellen, extra breiten Rollstuhl, und zwei Betreuer müssen ihn reinsetzen und ihm raushelfen. Aber er ist geschickt mit seinen Händen. Er kann seinen Rollstuhl alleine fortbewegen und er kann einen Stift gut genug halten, um seinen Namen zu schreiben – und einen Schneemann zu erdolchen.
Carl stach Bleistifte und Lineale in den Rumpf des Schneemanns und Kulis in seinen Kopf. Mrs Hyatt klatschte für gewöhnlich in die Hände und rief mit ihrer kleinen, piepsigen Stimme: »Gut gemacht, Carl! Wirklich kreativ!«
Carl lachte bloß. Er kann reden, aber nur in sehr kurzen Sätzen, die meistens aus zwei Teilen bestehen. Er hat sehr klare Meinungen. »Schneemann blöd!«, schrie er. »Sehr, sehr blöd!«
Ich glaube, er hasst den Schneemann genauso sehr wie ich. Einmal hat er eine
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