Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
oder Boote ging, brabbelte Willy nur, aber aufgepasst, wenn sich die Frage um Baseball drehte. Er kreischte die richtige Antwort heraus, bevor das Winseln und Bellen die Oberhand gewann.
»Wie hieß der erste Baseballspieler, der sechzig Homeruns in einer Saison geschafft hat?«, fragte Mr Gross in die Runde.
»Babe Ruth!« Dann ein Kreischen.
»Wer brach Babe Ruths Rekord von siebenhundertundvierzehn Homeruns?«
»Hank Aaron!« Jaulende Geräusche.
»Und wer ist der beste Schlagmann aller Zeiten?« Mr Gross schien Willys Wissen zu überraschen.
»Pete Rose! Vier-zwei-fünf-sechs. Iiik!«
»Und wer hält den lebenslangen Rekord im Touchdown?«
Stille. Nicht einmal ein Quietschen. Football ist Willy egal. Genau wie Schneemänner.
Manchmal allerdings, wenn ich Willy ansehe, habe ich das Gefühl, dass er sich wirklich wünscht, er könnte stillhalten und ruhig bleiben. Ich beobachte, wenn er seine Augen schließt, seine Stirn in Falten legt und sich konzentriert. Für ein paar Minuten ist er ruhig. Er holt tief Luft, wie ein Taucher, der an die Oberfläche kommt. Wenn er seine Augen öffnet, fangen die Laute von Neuem an. Und dann sieht er immer traurig aus.
Jill benutzt eine Gehhilfe, weil ihr linker Fuß ein wenig hinterherschleift, wenn sie läuft. Sie ist dünn und blass und sehr still. Wenn Sydney zur Weihnachtszeit herausgeholt wird, sind Jills Augen fast ausdruckslos. Es ist, als wäre das Licht ausgeschaltet worden. Sie weint viel. Mr Gross legte ihr Dekomaterial in die Hände und versuchte, es ihr leicht zu machen, bei dem Projekt mitzuwirken, aber es war, als würde er einer Schaufensterpuppe helfen. Ich habe eine der Hilfskräfte erzählen hören, dass sie einen Autounfall hatte, als sie noch ein Baby war. Wie grausam – heil zu starten und dann nicht mehr imstande zu sein, Dinge zu tun.
Freddy ist fast zwölf und der Älteste in unserer Gruppe. Er fährt einen elektrischen Rollstuhl. Er liebt dieses Teil. Bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet, sagt er zu mir: »Freddy macht wrumm! Freddy macht wrumm!« Er grinst, tut so, als würde er einen Helm aufsetzen, legt den Steuerhebel auf Max und fährt los, quer durch den Raum. Natürlich besitzt sein Geschwindigkeitsregler nur zwei Einstellungen – langsam und langsamer. Aber Freddy kommt sich vor wie auf der Rennbahn. Er rast mit seinem elektrischen Rollstuhl um den schäbigen alten Schneemann herum, bewirft ihn dabei mit klettbaren Sternen und Glocken und fragt: »Schneemann macht wrumm, wrumm?«
Na ja, nachdem Willy ihn umgeworfen und Carl versucht hat, ihn mit Stiften zu erstechen, war das wahrscheinlich eine berechtigte Frage! Jedes Jahr fügt Freddy dem Schneemann seine eigene Note hinzu – NASCAR- und NASA-Aufkleber wie an seinem Rollstuhl. Wenn man Freddy nach dem Datum fragt, weiß er es nicht. Aber will man wissen, wer das Daytona-500-Rennen gewonnen hat, weiß Freddy es ganz bestimmt.
Und dann bin da ich.
Ich hasse den blöden Schneemann. Aber ich bewerfe ihn mit Lametta, so wie sie es haben wollen. Das ist leichter, als etwas zu erklären.
Ich habe ein großes Plexiglastablett, das an den Armlehnen meines Rollstuhls befestigt werden kann. Es dient als Esstisch und auch als Kommunikationstafel. Als ich kleiner war, hat Mom Dutzende Wörter darauf festgeklebt, aber trotzdem war ich beschränkt auf eine Handvoll gängiger Nomen, Verben und Adjektive, einige Namen und ein paar Smileys. Es gibt auch ein paar wichtige Sätze wie
Ich muss zur Toilette, bitte
und
Ich bin hungrig,
aber die meisten Menschen – sogar kleine Kinder – haben mehr als das an einem Tag zu sagen. Ach nee!
Auf der rechten Seite stehen
bitte
und
danke
,
ja
,
nein
und
vielleicht
nah beieinander. Auf der linken befinden sich die Namen von Familienmitgliedern, Klassenkameraden und Lehrern.
Der Name »Sydney« kommt nicht vor.
Oben ist eine Alphabetleiste angebracht, damit ich Wörter buchstabieren kann, und darunter eine Zahlenreihe, damit ich zählen oder Mengenangaben machen oder über die Zeit sprechen kann. Für den größten Teil meines Lebens hatte ich die Kommunikationsmittel eines Kleinkindes auf meiner Tafel. Kein Wunder, dass mich alle für zurückgeblieben halten.
Übrigens hasse ich dieses Wort.
Zurückgeblieben.
Ich mag alle Kinder in Raum H-5 und ich verstehe ihre Situation besser als jeder andere, aber niemand sonst ist so wie
ich
. Es ist, als würde ich in einem Käfig ohne Tür und Schlüssel leben. Und ich habe keine Möglichkeit,
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