Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
und lerne deinen Schatten gut kennen, bevor du über ihn springst! Vieles von dem, was in Selbsterfahrungs-, Therapiegruppen und Kommunikationskursen geschieht, entspricht diesem «Auswärtsspiel»-Charakter. Das Problem ist nur, dass hochdistanzierte Menschen sich auf so etwas nicht einlassen – und wenn, dann äußerst widerwillig und misstrauisch: «Ist der Leiter (oder die Leiterin) nicht nur darauf aus, möglichst viel aus einem herauszulocken, um einen besser auseinandernehmen zu können? Zusammensetzen muss man sich dann alleine wieder! Falls man es dann noch kann, nachdem auch noch die Wölfe über einen hergefallen sind!»
Dieses Misstrauen, so charakteristisch es für den distanzierten Menschen sein mag, ist gar nicht ganz unberechtigt: Wer garantiert ihm denn, dass die gebotene Dosierung für ihn heilsam oder eine Selbstdosierung straffrei möglich ist? Sind nicht in solchen Gruppen häufig Leute wegen ihrer «Kopflastigkeit» belächelt, gescholten oder abgelehnt worden? Oder überfordert worden von Leitern, die ihr Ziel in der raschen und «professionellen» Überwindung zwischenmenschlicher Barrieren sahen? In jedem Seminar, das ich selbst leite, rechne ich mit diesen beiden «Fraktionen»: die einen, die am liebsten von vornherein im Kreis sitzen – und die anderen, die sich dabei überaus entblößt fühlen und nach anständigen Tischen, schriftlichen Seminarunterlagen und festen Plätzen verlangen; die einen, die gern hätten, dass man sich allseits duze – und die anderen, denen das zuwider ist und die sich strikt weigern würden; die einen, die viel in kleinen Gruppen reden und sich austauschen möchten, vor allem über persönliche Belange – und die anderen, die kompetente Vorträge und abstrakte Diskussionen bevorzugen; schließlich die einen, die sich nach Übungen sehnen, bei denen man etwas «miteinander macht», zum Beispiel in Paaren ohne zu sprechen sich nur an den Händen berührt und sich dabei anschaut – und die anderen, denen allein schon das Stichwort «nonverbale Übung» einen Schauder über den Rücken jagt.
Die Kunst des Seminarleiters besteht darin, beide Fraktionen in Wort und Tat willkommen zu heißen – statt die Haltung der einen als leuchtendes Vorbild für die anderen zu glorifizieren. Besonders die distanzierteren Teilnehmer brauchen es, dort abgeholt zu werden, wo sie sich innerlich befinden. Vorträge mit theoretischen Modellen (wie in diesem Buch) sind für sie meist eine gute Starthilfe, um sich auf «so etwas» einzulassen; kann doch auf diese Weise der Verstand erst einmal das Terrain abschreiten, auf dem es sich zu bewegen gilt. Selbsterfahrung ist ein schwankender Boden, und die Theorie ist das Haltegerüst. Ich bin immer wieder erstaunt, in welchem Maße dann auch «hartgesottene» Manager, Techniker, Mediziner, Juristen, Kaufleute und EDV-Spezialisten bereit sind, diesen ungewohnten Boden zu betreten und sich berühren zu lassen. Wichtig ist dabei, dass ich auf sie keinerlei Druck ausübe. Eher verbünde ich mich mit dem Teil in ihnen, der auf «Nummer sicher» gehen und sich heraushalten will. Die Einladung, ein persönliches Anliegen zu bearbeiten, enthält ausdrücklich auch die Möglichkeit, ganz zu verzichten oder eine rein theoretische Frage zu behandeln. Und wenn es jemandem in der Gruppe «zu eng» wird, verzichte ich völlig auf Engelszungen, um ihn wieder einzugemeinden. Beispiel aus einem Seminar, 3. Tag, nachmittags: Ein Abteilungsleiter, der am Vortag eine persönliche Schwierigkeit mit einigen seiner Mitarbeiter bearbeitet und sich dabei sehr weit eingelassen hatte, begann die Sitzung mit den aufgebrachten Worten: «Dieses ewige Beisammensitzen und Problem-Bereden fällt mir allmählich auf den Wecker – ich sag das nur, falls ich heute irgendwann ausraste, dass Sie dann wissen, woher das kommt!» – Wie sollte ich reagieren? «Engelszungen» hätten etwa so geklungen: «Aber Sie haben doch gestern sehr von der Arbeit profitiert, haben Sie doch selbst gesagt! Meinen Sie nicht, dass mit etwas Konzentration und gutem Willen auch heute der Nachmittag für Sie etwas bringen könnte?» – Noch schlimmer wäre es, die «Engelszungen» mit «Moralin» zu würzen, etwa so: «Sie waren gestern dran, und wir haben uns alle mit viel Engagement und Geduld auf Ihren Fall konzentriert. Meinen Sie nicht, dass die anderen Leute dasselbe Recht haben dranzukommen und nun auch Ihre aktive Teilnahme erwarten dürfen?» – Solche Sätze würden die
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