Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
seelische Realität übersehen, die sich in der verdrossenen Bemerkung kundtat, und würden den Betreffenden innerlich noch weiter in den Zustand hineintreiben, sosehr er sich äußerlich auch zu einem «Wohlverhalten» durchringen mag. Aber was ist das für ein Zustand, in dem er sich befand? Mit Sicherheit lässt sich dies aufgrund dieses einen Satzes noch gar nicht sagen. Aber die Formulierung des «ewigen Beisammensitzens» lässt in Verbindung mit dem starken Einbezogensein am Vortag die Vermutung zu, dass dieser Teilnehmer, obwohl sonst gar kein «typisch Distanzierter», nun von der sich distanzierenden Strömung stark erfasst wurde, da die Nähe in der Gruppe und die gefühlsmäßige Berührung ihm schon längst des Guten zu viel gewesen war. Die Vermutung wird durch das Folgende bestätigt. Ich sagte: «Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, dass Sie sich mal einen Moment auf die Frage konzentrieren: ‹Wie würde ich diesen Nachmittag verbringen, wenn alles nur nach mir ginge?› Nach kurzer Pause antwortete er: ‹Dann würde ich gar nicht hierbleiben, sondern mich ins Restaurant setzen, einen Kaffee und einen Cognac bestellen, meinen Terminkalender und andere Dokumente auf dem Tisch ausbreiten, und dann ohne große Ziele einmal hier hinein- und da hineinschauen und einfach so für mich sein!› Ich schlug vor: ‹Wie wäre es, wenn Sie das wirklich jetzt tun würden?› Nach kurzem Zögern entschloss er sich zu gehen. Nach zwei Stunden kam er wieder: Die Zeit habe ihm gut getan, aber jetzt liege ihm daran, wieder den Anschluss zu gewinnen. Für den Rest der Zeit war er nicht nur anwesend, sondern wirkte auch teilnehmend und aufgeschlossen.
Immer wieder wichtig zu wissen, dass die Annäherung zum Kontakt beim Distanzierten nicht direkt erfolgt:
und somit auch nicht durch «Ziehen» zu befördern ist, sondern über eine «Umwegschlaufe» (Thomann):
Meine Untersuchungen über die Auswirkungen solcher Seminare legen den Schluss nahe, dass Teilnehmer mit deutlich distanzierenden Anteilen in ihrer Persönlichkeit häufig sehr viel profitieren. Insbesondere berichten sie davon, im Kontakt mit Nahestehenden mehr von sich zu erkennen zu geben, mit der Folge, dass es gelegentlich hoch hergehe, aber insgesamt ihre Begegnungen und Beziehungen reicher und tiefer würden.
8.
Der mitteilungsfreudig-dramatisierende Stil
8.1
Erscheinungsbild, Grundbotschaft und seelischer Hintergrund
Während wir unter dem Einfluss der zuletzt beschriebenen Strömungen, der kontrollierenden und sich distanzierenden, nicht recht geneigt sind, viel über uns selbst preiszugeben, scheint bei der nun folgenden das genaue Gegenteil vorzuliegen: Unter ihrem Einfluss sind wir außerordentlich mitteilungsfreudig und von starkem Gefühlsausdruck, genießen es, von Publikum umringt zu sein und es in unseren Bann zu ziehen, indem wir unser Selbst gleichsam zur Aufführung bringen.
In Gegenwart von Menschen, deren Persönlichkeit von diesem Hauptstrom durchzogen ist, wird es selten langweilig. Immer ist irgendetwas los – und wenn nicht, dann sind sie es selbst, die mit Energie «Leben in die Bude» (oder in die «Beziehungskiste») bringen. Ihre intensive Emotionalität steht in farbigem Gegensatz zur Intellektualität jener vorgenannten Stile, ihre ausdrucksvolle Darstellungskraft zu deren Starrheit, ihre leichte Verrücktheit zu deren Vernunft. Mit der halb stöhnenden, halb belustigten Entgegnung «Sei doch nicht immer so schrecklich vernünftig!» können sie einen pedantischen Argumentierer gerade in dem Augenblick schachmatt setzen, in welchem er sich am Ziel seiner Beweisführung wähnte: «Bei einem logischen Salto mortale hat sich schließlich noch keiner das Genick gebrochen, aber es hat sich schon mal jemand totgegrübelt – wer zu viel plant und alles zweckmäßig gestalten will, der verpasst das Leben! Und das Leben? Das ist hier und jetzt! Was schert einen der Schnee von gestern oder der Regen von morgen, wenn heute die Sonne scheint? Leben? Das ist Lebendigkeit, und Lebendigkeit ist Spontaneität und Erlebnisintensität! Wer improvisieren kann, braucht nicht so viel zu organisieren – manche Menschen sehen schon aus wie ihr eigener Terminkalender und haben sich selbst ins Gefängnis ihrer Planquadrate und Organigramme gesperrt! So programmiert man seinen eigenen Stillstand – aber mit System, versteht sich! Ein elendes Leben, aber Hauptsache ‹korrekt›! Und dann wollen sie einen da auch noch mit reinziehen,
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