Mitte der Welt
Jahre genau ist es her, seit das alte Konstantinopel Fatih Mehmet in die Hände fiel. An diesem heutigen Tag fiel ihm zu, was vor ihm viele schon versucht hatten: die Stadt in Besitz zu nehmen; nach fast einjähriger Belagerung.
Zufällig soll, so wird berichtet, während der tagelangen heftigen Beschießung der Landmauer, während des Anrennens und Hereinstürmens in die geschlagenen Breschen, während des Abwehrens und Niedermachens der Eindringenden, ein Tor in der Mauer offen geblieben sein – vielleicht infolge von Erschöpfung und Zermürbung angesichts des nicht mehr zurückzuschlagenden Ansturms, wer weiß, ob sperrangelweit oder nur einen Spalt breit oder schlicht unverschlossen –, so dass die Prophezeiung sich erfüllte an diesem Tag; und das Tor, das heute Eğri Kapı heißt, das Geburtstor Istanbuls wurde.
Und: Heute ist auch mein Geburtstag. Nicht ganz genau heute, aber auf ein paar Tage mehr oder weniger, finde ich, kommt es nicht an. Mir gefällt, dass mein Geburtstag mit Istanbuls fast genau zusammenfällt. Ein schöner Zufall!
Nur weiß hier niemand davon. Hier interessiert sich niemand für Geburtstage. Oder falls doch, erst seit neuerem, seit sich an Sitten und Gebräuche der westlichen Welt angelehnt wird. Ansonsten werde das Wunder der Geburt nicht per Datum zu fassen versucht, höre ich, nicht an einem einzigen Tag im Jahr das Ich betrat die Welt für feiernswert erachtet, sondern Tag für Tag.
Die Füße lasse ich neben den blühenden Kapuzinern baumeln – dass mir die Anzahl der bereits gelebten Jahre nicht auf Anhieb einfällt, dass die Ziffer an Bedeutung verliert, mag sein, es ist, weil die Rechnung inzwischen eine andere ist.
Trotzdem, mir ist sehr feierlich heute.
Feiernswert ist, dass ich hier bin, in dieser Stadt, Tag für Tag.
Am Tag meiner Geburt, nachdem ich das Tor ins Leben endlich passiert hatte, soll die Hebamme hinausgegangen sein in den Garten, um Luft zu schöpfen, und zurück ans Bett der Frischentbundenen gekommen mit einer Kapuzinerblüte, der ersten in jenem Jahr, die sie ihr aufs Kissen legte mit den Worten: zur Feier des heutigen Tages!
Bei Vollmond, heißt es, kommen viele zur Welt; andere am Abend vor dem großen Sturm, oder in der Nacht, als der erste Schnee fiel, oder zur Zeit der Mandelblüte, der Feigenernte, der Weinlese, oder nach dem Opferfest oder während des Umzugs ins neue Haus, oder auf der Flucht; mein Geliebter kam, als die Granatäpfel eben anfingen, vor Süße zu platzen; manche kommen früh, manche spät, manche leicht, manche schwer. Ich kam als erstes Kind meiner Mutter, und: mit der ersten Kapuzinerblüte. Dass die Kapuziner in Istanbul früher im Jahr zu blühen anfangen – vielleicht wär’ auch ich hier früher ins Licht –
Mein verzückter Blick auf diese Stadt: Wie verschwenderisch leichtsinnig sie ist, trotz allem Verfall, betörend nachlässig aller Vergänglichkeit gegenüber!
Aber es stimmt schon: Dass Fatih Mehmet, nachdem die Stadt von seinen Heerscharen eingenommen worden war, geplündert und geschändet und alles sonst, was Eroberung mit sich bringt, dass er, der Eroberer, sie, die Stadt seiner Träume, am Nachmittag jenes 29. Mai zu seiner machte, ist, wie ich finde, tatsächlich unerhört und einzigartig!
Immerhin schenkte er ihr, dieser Unvergleichlichen, die es ihm so angetan hatte, dass er nicht nachließ in seinem Eifer, sie sich zu eigen zu machen, obwohl sie nicht mehr die Jüngste war und vor ihm bereits diverse Zeiten durchlebt hatte, glanzvolle und andere, Fatih Mehmet schenkte ihr neues Leben in neuem Glanz – Erneuerung, Verjüngung, Wieder-Geburt.
Aus dem Garten wird zum Tee gerufen.
Ich pflücke drei Kapuzinerblüten, eine rote, eine gelbe, eine orange, gehe hinüber zu den Freunden, die unter Bäumen im Halbschatten sitzen. Ich setze mich zu ihnen und lege die drei Blüten auf den Tisch – zur Feier des heutigen Tages!
VERNISSAGE
Schon kurz nach der Eröffnung ist ein Bild verkauft. Ismet lacht: Wir können nachher alle zusammen feiern gehen!
Nach der Vernissage stellt sich heraus, bei dem einen verkauften Bild bleibt es; zwei noch sind immerhin reserviert.
Ein Bild ist besser als kein Bild, sagt Ismet, und das gehen wir jetzt feiern!
Und also feiern wir.
Der Tisch ist voll und wird immer voller, immer wieder wird noch etwas gebracht, Vorspeisen, Gratiniertes, Gegrilltes, Gedünstetes, Frisches. Es wird gegessen und gelacht, geraucht und geredet, und immer wieder wird nach Wasser und Eis
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