Mitte der Welt
Müllvermeidungsbeitrag, dachte ich damals. Obwohl sich mein Blick inzwischen verändert hat, ist es dabei geblieben, und obwohl die Flaschen aus Glas wesentlich schwerer zu tragen sind. Aber fast immer findet sich ja jemand zum Tragenhelfen, heute Hasan.
Heute, wie so oft dienstags, wenn Markttag in Cihangir ist, kaufte ich wieder taschenvoll ein, verführt von der Taufrische der Erdbeeren, Kirschen, Artischocken und so weiter, und wie meistens wird es für die ganze Woche reichen. Einkaufen wie die Hiesigen konnte ich anfangs nicht – scharf aufpassen, dass sie dir nichts Angestoßenes mit in die Tüte packen, was, falls du dem Verkäufer nicht auf die Finger schaust, fast sicher geschieht. Ja, inzwischen sage auch ich ganz ohne Scheu: Das will ich, das nicht! Und oft wiegt schwer, was ich dann nach Hause trage oder, falls zu schwer, tragen lasse.
Schwester, gib mir deine Taschen, ich trage sie dir nach Hause! – Als ich es zum ersten Mal hörte und mich verwundert umdrehte, schaute ich ins Gesicht eines hageren Mannes; sein Blick wich aus, aber seine Hand wies erklärend nach hinten zum Korb auf seinem Rücken.
Wie schön, dass es dies gibt hier, dachte ich und übergab ihm meine diversen Plastiktüten; nur etwas fehle mir noch, der weiße Käse.
Schwester, kauf so lang und so viel du willst, ich trage es!
Einen Schritt Abstand haltend, ging er hinter mir her, zwischen den Marktständen hindurch, und neigte, wenn ich noch etwas kaufte, den Korb, damit ich die neue Tüte hineinlegen könne; und dann folgte er mir durch die Gassen bis nach Hause und die Treppen hinauf und stellte die Last vor der Wohnungstür ab.
Wie viel schulde ich Ihnen?
Schwester, entscheide du, was du mir geben willst!
Mit dem, was ich nach meinem Ermessen gab, schien er zufrieden; jedenfalls zeigte er weder Enttäuschung noch Freude.
Inzwischen aber weiß ich, Trägersein ist ein Beruf hier – hamal heißt der Träger und küfe sein Korb, ähnlich dem, der im Tessin gerla genannt wird, Chräze um Zürich herum und Kiepe in Norddeutschland. Und auch was das übliche Entgelt ist, weiß ich; und gebe seither ohne Zögern und ohne mich zu fragen, ob der Lohn angemessen sei – was heißt schon angemessen!
Andererseits: Wenn dich jemand an einen Ort führt, den du alleine niemals finden könntest, oder dir sonst wie durchs Dickicht des Alltags hilft, darfst du, falls er oder sie die Hilfe spontan anbietet, keinesfalls Geld dafür geben. Falls du aber doch Geld gibst, weil du siehst, dass Geld trotz Abwehr erwünscht ist, musst du darauf achten, es nebenbei zu tun, so als ob ihr beide es nicht sähet. Denn vergiss nicht, Hilfe ist nicht zu bezahlen, weil Hilfe Ehrensache ist; oder doch einfach selbstverständlich unter Menschen.
Hasan, der vor mir geht und das Wasser trägt, je eine Flasche in jeder Hand, wie alt mag er sein? Acht vielleicht oder neun. Sein aufrechter Kindergang, während er die steile Straße hinabgeht, sein stolz erhobenes Jungenhaupt – der Tragejob scheint ihm, der gewöhnt ans Helfen ist, keine Schmach zu sein.
Nicht von Anfang an war der Bakkal oben an der Ecke »mein« Bakkal. Vor ihm hatte ich einen anderen, dessen Laden näher liegt, schräg gegenüber, gleich oberhalb vom Italienischen Krankenhaus. Aber plötzlich, nachdem der mich mit meinem Geliebten straßabwärts hatte gehen sehen, benahm er sich, als ob ich Luft wäre, wenn ich grüßend an seinem Laden vorbeiging; und wenn ich den Laden betrat, hantierte er hinter dem Tresen herum, packte Waren aus, räumte sie ein, ordnete Papiertüten, telefonierte, bevor er mich endlich bediente.
Nicht dass mein Geliebter und ich auf der Straße eng umschlungen gegangen wären, nicht einmal Hand in Hand oder sonst wie anstoßend an irgendeines Bakkals Moral, nein, es genügte offenbar, dass ein türkischer Mann neben mir ging, um zu bestätigen, was hier viele zu wissen meinen: Jede Frau aus Europa ist eine Hure.
Dass er und seinesgleichen sich nichts anderes vorstellen können!
Aber auch: dass türkische Männer, die eine europäische Frau begleiten, nichts anderes als Hurenböcke sein sollen – warum so einseitig und ausschließlich! Warum kann ein Türke nicht, zum Beispiel, auch ein Deutsch- oder Französisch-Lernender sein oder ein Türkisch-Lehrer oder ein Kollege oder Freund oder was weiß ich sonst!
Anfangs dachte ich natürlich, auf seine Bakkal-Ehre pfeife ich, mir kann schließlich egal sein, für wie ehrlos der mich hält; abhängig von ihm und
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