Mitte der Welt
ob sie meine Leyla oder Fatma oder wie immer sie sich damals nannte, ob sie es ist.
Nicht nur an ihren Namen kann ich mich nicht erinnern, noch nicht einmal an ihr Gesicht; einzig ihr stolzes Lachen ist mir noch im Ohr.
Und jener Zettel, auf den sie mir die Namen kurdischer Kulturschaffender schrieb, der muss auch noch irgendwo sein.
MANFRED UND MELEK
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf einem der Sessel im Salon – um die Schlagzeilen zu überfliegen, falte ich sie auf und sehe: Sie ist vom heutigen Tag. Ich frage Melek, als sie mit dem Tee aus der Küche kommt, wo in der Stadt ausländische Zeitungen vom Tag selbst zu bekommen seien. Sie stellt das Tablett mit den Teegläsern und der Zuckerschale ab, nimmt mich am Ellenbogen und führt mich zum Fenster: Schau, jene Straße gehst du runter, höchstens hundert Meter weit bis zur nächsten Kreuzung, dort ist, schräg gegenüber von der Polizeistation, Alaaddins Kiosk; bei ihm bekommst du immer die aktuellen Ausgaben, von sämtlichen internationalen Blättern.
Da, wo ich Zeitungen kaufe, sind immer nur die vom Vortag zu haben oder noch ältere.
Melek lächelt: Alaaddin ist Alaaddin, er schafft das!
Und nicht nur das schafft er, sagt Manfred – aus seinem Arbeitszimmer ist er zu uns ans Fenster gekommen. Alaaddin hat auch alles sonst, was man ganz plötzlich dringend braucht, alles zum Überleben. Melek hat recht, er ist wirklich besonders. Aber erst einmal sollte ich Sie richtig begrüßen – wie schön, dass Sie uns endlich besuchen kommen!
Kommen Sie doch vorbei, wenn Sie hier in der Gegend sind!, hatten sie gesagt, als ich mit Emel das erste Mal bei ihnen war.
Emel hatte mich mit ihrer Schulfreundin bekannt machen wollen. Eine wunderbare Frau, sie wird dir bestimmt gefallen. Seit sie im Alman Lisesi , im Deutschen Gymnasium, nebeneinander in der Schulbank saßen, seien sie befreundet, sagte sie.
Ja, ich mochte Melek sofort. Und auch Manfred; seine Weltläufigkeit gefiel mir und wie er erzählte von seiner Zeit in Kabul.
In den 60er Jahren war er, der einer baltischen Diplomaten-Familie entstammt, als junger Sprachwissenschaftler für indo-europäische Sprachen dem Ruf an die Universität Kabul gefolgt und hatte mehrere Jahre dort gelehrt; nicht in Rom, nicht in Buenos Aires, sondern in Kabul!
Kabul war, sagte er, eine wunderschöne Stadt, bevor die Russen einmarschierten. Und das Leben dort – Afghanistan war noch eine konstitutionelle Monarchie –, ja, man konnte es sehr gut aushalten. Auch das herrliche Klima; die Hitze in Kabul ist trocken und der Winter nicht feuchtkalt, sondern wirklich kalt. Vor allem aber die Menschen – was für gescheite, kluge Menschen!
Manfred lachte, als ich nach den Frauen fragte, wie es um sie damals stand. Die Frauen, sagte er, waren wie die Frauen in Paris oder in Rom oder in Istanbul, kluge, moderne Frauen, und ob Frauen studieren sollten, nein, es war keine Frage! Selbstverständlich sprechen wir nur von den städtischen Eliten. In den ländlichen Gegenden lebten die Menschen der Tradition verpflichtet – nicht anders als in Anatolien, wo es ja auch lange noch sehr traditionell zuging. Übrigens die Hippies, die damals Afghanistan passierten auf ihrem Weg nach Indien – uns in den Städten hat das wenig berührt; aber gewundert haben wir uns schon über die ausgeflippten Wohlstandskinder mit ihren romantischen Träumen.
Mitte der 70er Jahre, als der König hatte abdanken müssen und Afghanistan mehr und mehr in eine Diktatur rutschte, war Manfred nach Istanbul gekommen, da freies Arbeiten an der Universität immer schwieriger wurde. Und hier in Istanbul, an der hiesigen Universität, haben sich Melek und er gefunden, sie noch Studentin, er bereits Professor, und wurden ein Paar; und seither leben sie in dieser Wohnung hier in Nişantaşı.
Mir hatte gefallen, wie Melek zu den Frauen Afghanistans zurückkehrte: Warum er es mir unterschlage, dass die Kabuler Studentinnen nicht nur sehr klug waren, sondern eben auch sehr, sehr schön. Worauf er, der inzwischen fast weißhaarige Manfred, seinen Arm um die zierliche, noch immer schwarzlockige Melek legte: Nein, die Frauen hierzulande sind nicht weniger schön! Und die Allerschönste bist immer noch du!
Wie oft bin ich durch Nişantaşı gegangen und habe daran gedacht, bei Melek und Manfred zu klingeln, ohne es zu tun; obwohl ich die schöne Sitte längst kenne, dass ohne vorherige Anmeldung zu klingeln möglich ist. Heute endlich tat ich es.
Mit Nachdruck
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