Mittelreich
nahe dran. Mehr nicht. Sein geistiges Auge hob ab, wurde dramatisch gefühlig und heischte nach Einblicken ins Paradies – aber der Kopf blieb träge und schwer, blieb haften im Jetzt und im Hier.
Als die schmerzenden Bandscheiben ihn wieder in die Wirklichkeit geholt und seinen traurigen Blick entrümpelt hatten, als sich sein halb offener Mund wieder geschlossen hatte und das Schwarze unterm Daumennagel wieder unwichtig geworden war, da war er froh, nicht über alle Grenzen hinausgelangt zu sein. Mit den Bandscheiben konnte er umgehen. Mit den letzten Zusammenhängen des Seins nicht.
Er stand auf und ging zum Telefon. Er wählte die Nummer seines Freundes Doktor Pachie junior. Bist du selber dran?, fragte er. Ah ja. Gut. Pass auf: Ich habe mich entschieden. Ich lass mich operieren. Sag mir Bescheid, wenn du vom Krankenhaus einen Termin bekommen hast. Ich nehme mir Zeit, wann immer es ist.
Mit einem Ruck riss Viktor den Feldstecher herunter und bog sein Geschlechtsteil in den Hosenschlitz zurück. Gleichzeitig duckte er sich hinter den Holunderstrauch und hielt den Atem an. – Gemächlich kroch eine grünliche Raupe über sein Handgelenk, sich buckelnd und streckend schob sie sich vor bis auf den Handrücken, Zentimeter für Zentimeter. Als sie bei den Fingerknöcheln angelangt war, blies er sie angewidert weg. Mein Gott, wie wär das peinlich, wenn der mich jetzt hätt so gesehen, dachte er. Der würde das bis ins Detail hinein herumerzählen. Ich wär geliefert. Ich würde müssen wegziehen, wenn der das Maul aufreißt. Aber vielleicht hat er ja auch nur geguckt ins Leere.
Allmählich beruhigte er sich wieder und begriff, wie unsinnig seine Sorge war: Er war dem Fernglaseffekt aufgesessen, als er glaubte, der Nachbar hätte ihm direkt in die Augen geschaut. Jetzt atmete er wieder durch und überlegte: Der kann mich nich gesehen haben, denkt er, nee nee, der hat mich nich gesehen! Der hat sich nur umgeguckt, ob keiner ihm zuguckt, der alte Riesenportugiese. Hä hä. Wieder nahm er das Glas vor die Augen und suchte einen Durchblick durch Blätter und Zweige. Er sah den alten Austragsbauern jetzt bäuchlings auf dem Holzstoß liegen, der entlang des Zaunes aufgeschichtet war. Und sah im Geiste, wie dessen Augen auf der Augenweide grasten, die vorher noch die seine war: die nackte Meinrad ... und ihr schwarzer Busch in Augenhöhe vor dem alten Dichter. Hinterm schmutzig trüben Fensterglas des Gartenhauses konnte er sie eben noch durchs Fernglas auf dem Holztisch tanzen sehen, mit einer Wehrmachtsmütze auf dem Kopf, auf dem Mützenschirm den Adler, lange Seidenstrümpfe hochgezogen übers Schenkelfleisch, vom Straps gehalten. Sonst hielt sie nichts. Nur Nacktheit ohne jede falsche Scham. Und vor dem schwarzen Dreieck, an einer langen Kette um den Hals, baumelte das abgeknickte Runenkreuz. Mehr geht nicht, dachte er. Alles trüb zwar, das Fenster alt und lang nicht mehr geputzt. Doch wovon die Augen wenig sehen, sieht umso mehr die Fantasie. Tief im Lehnstuhl, mit dem Rücken hin zum Spanner, ohne trübes Fensterglas dazwischen, zu sehen nur sein Hinterkopf, saß der alte Schreiberling und bohrte seinen Blick durch ungetrübte Sicht hinein in das Geschlecht der Meinrad. Feiner Rauch fiel fadenleicht von ihrer Zuban-Zigarette, zog als dünner Nebel durch den Raum, wob sich um ihr Kräuselhaar. Mit Geschichten aus der Tier- und Pflanzenwelt war er berühmt und reich geworden. Menschenfleischgeschichten tischte ihm mit ihrem nicht mehr allzu jungen, doch noch immer festen weißen Körperfleisch die Meinrad auf. Allein mit sich und ihr im Gartenhaus, sah sein Blick die andern Blicke nicht. Die schauten mit ihm hin und ihm beim Schauen zu. Doch durfte er betasten, was die beiden anderen nur beschauen durften. Nachkriegshierarchien.
Der Viktor fischte seinen Stummel wieder aus dem Hosenschlitz und rieb ihn weiter zwischen Daumen, Ring- und Mittelfinger, doch die Lust war weg. Noch einer schaute mit! So ein Geheimnis teilen kann man nicht. Ich nicht! Wie er den andern sah, sah er selber sich in diesem Augenblick. Da kam die Scham: Er schämte sich vorm andern und vor sich. Der andre hat es besser, dachte er, der fühlt sich jetzt allein und ungesehen. So wie ich mich vorher auch. Das kann ich ohne Neid nicht denken. So schrumpfte ihm der Stummel wieder in der Hand zur Haut, das Fernglas sank herunter, er schaute in sein abgebranntes Leben.
Schon um die sechzig ist er jetzt. Sein Fleisch will das andre
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