Mittelreich
doch nie ein sexuelles Darben. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern.
Herr Hanusch! Herr Hanusch!, hörte er die Seewirtin rufen, Herr Hanusch, ich brauche den Endiviensalat. Jetzt machen Sie doch! In einer Stunde kommen die Gäste. Viktor kroch hervor unter dem Holunderstrauch und ging aufrechten Ganges zum Gemüsegarten. Auf dem Weg dorthin, wo der Bretterzaun ihm Deckung bot, holte er den Stummel noch ein drittes Mal heraus und ließ das Teil beim Gehen baumeln. Das gab ein wenig Freiheit seiner in den Kopf gezwängten Lust. Doch baumelte das Ding nicht recht, gedemütigt vom Denken. Es hoppelte und ruckelte vor seinem Hosenschlitz und tat nicht, was er sich ersonnen. Es gab ihm aber ein Gefühl: das Gefühl vom eignen Stuhl im Gartenhäuschen, wo auf dem Tisch in seiner Fantasie nicht mehr die Meinrad, sondern jetzt die Kohlrab tanzt. Es gab ihm das Gefühl, schon noch ein Geschlecht zu haben. Noch wollte er nicht nur noch unerfüllte Sehnsucht sein.
Und da begann das Ding auch wieder sich zu schaukeln.
Als die Kinder des Seewirts aus dem Haus und auf verschiedene Klosterinternate verteilt waren, verfiel das Seewirtsehepaar in eine zwischenmenschliche Agonie. Der Grund des Zusammenlebens, die Gründung einer Familie, schien zwar ohne die Kinder wieder ursprünglich geworden zu sein, aber die anfängliche Liebe zwischen Mann und Frau, angestachelt vom Begehren der Begierde des anderen und listig ausgeklügelt von der Natur, die nichts im Schilde führt als den Erhalt der Art, war so nicht mehr zu haben. Sie mussten nun, da sie weiter zusammenlebten, auf andere Weise zueinanderfinden – ohne die Kinder. Das aber war nicht mehr einfach. Vielleicht war es ja gar nicht mehr möglich.
Jetzt lernten sie die Seltsamkeit kennen, dass sie ohne den Umweg über die Kinder einander nicht mehr viel zu sagen hatten. Sie waren aus einer Zuneigung heraus eine Familie geworden, in der sich nach und nach alles andere gefügt hatte. Und das anfängliche Bedürfnis, zu zweit alleine sein zu wollen, wurde stufenlos und wie selbstverständlich zum Bedürfnis, mit den Kindern beisammen sein zu wollen. Nach und nach war der Seewirt zum Vater und die Seewirtin zur Mutter geworden, ihre eigenen Namen lösten sich auf in diesen, und die biologische Bestimmung von Mann und Frau wurde anrüchig: Unter der Kontrolle der ständig gegenwärtigen Kinder kehrte die ursprüngliche Scham, deren Überwindung der Zeugung vorausgeht, wieder.
Die über zehn Jahre gewachsene Selbstwahrnehmung über die Aura der eigenen Kinder war plötzlich verbraucht. Von einem Tag auf den anderen. Denn als die Kinder in Internaten untergebracht wurden, da klaffte von einem Moment auf den andern eine Wunde in der Seewirtin, die als großer Schmerz spürbar war und blieb und sich jeden Abend neu entzündete, wenn die Arbeit getan und kurz vor dem Zubettgehen Zeit war, Gedanken zuzulassen. Dann tauchten die Gesichter der Kinder vor ihr auf und quälten sie in eine Einsamkeit und in ein Schuldgefühl hinein, in eine, wie sie sich einredete, selbstverschuldete Verlassenheit, in die sie sich ein fühlte wie in einen leeren Krug, der nichts mehr zu fassen kriegt als seine Leere und daran zerbricht. Implodiert in viele kleine Teile, schlief sie ein. Wenn sie nach kurzem Schlaf unruhig wieder erwachte, auf ihrem nass geweinten Kopfkissen liegend, im Ehebett den Mann daneben, war der ihr, bis wieder Schlaf sie befriedete, ein Feind, wie nie ein Mensch zuvor ihr in ihrem Leben Feind gewesen war – nicht einmal der KZ -Mensch, der ihr Todesangst eingejagt hatte. Der Seewirt hätte das Drängeln und Sticheln, das falschzüngige Fordern seiner Schwestern nach standesgemäßer Erziehung der Kinder ins Leere laufen lassen können, ihre Forderungen nach einer Unterbringung im Kloster abschlagen müssen. Der KZ ler war nach jahrelang erlittener Qual auf der Suche nach Linderung. Das hatte sie verstanden. Ihren Mann verstand sie nicht mehr: In ihren Augen waren die Kinder im Schoß der Familie am besten versorgt.
Sie hatte niemand mehr, der ihr so nahestand wie immer noch ihr Mann, der aber jetzt in eine feindliche Ferne gerückt war, niemand, mit dem sie statt seiner hätte reden können, um ihre Zerrissenheit und Verlassenheit wenigstens mit jemandem zu teilen. So beredete sie mit ihm zusammen weiterhin den Tag und die gemeinsame Arbeit, um den Gefühlen nicht Zeit noch Raum und schon gar nicht Worte zu geben. Am Abend aber saßen sie in ihrem kleinen, jetzt so
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