Mittelreich
Fleisch ums Fleischloch immer noch. Doch zu lang schon ist das Fleischloch nur noch seine Faust. Zehn Jahre war die Kohlrab Wärme, Trost und Weib. Jetzt ist sie weg, seit einem Jahr. Die Regierung hat den Nachkriegskrieg, den Nahkrieg zwischen Flüchtlingen und Eingesessenen, entzerrt. Sie hat, wo früher Lager waren und die Deplatzierten hausten, die sich zum großen Teil nach Palästina und Amerika verzogen hatten, und auch in anderen, ganz neu gebauten Siedlungen, die Volksgenossen einquartiert, die von den Russen und den Tschechen wieder heim ins Reich zurückgetrieben worden waren. Da ging die Kohlrab mit. Sie hätte auch den Viktor gerne mitgenommen. Doch wollte der da nicht mehr hin. Nun habe ich mich hier doch eingelebt, maulte er sie an, was soll ich denn in Waldkraiburg oder Gartenberg? In meinem Alter geht man nicht mehr weg, verlegte er sich jetzt aufs Jammern. Du bist doch auch schon alt. Wir können doch nicht noch einmal von vorn anfangen! Hier komm ich mit den Leuten gut zurecht. Ich bin hier ein Faktor und nicht nur ein Knecht.
Viktor hatte sich im Seewirtshaus Unersetzlichkeit erworben. Er war für alle Arbeiten zuständig, die in der Lücke zwischen männlicher und weiblicher Arbeitsteilung zu vernachlässigen drohten. Er war kein Faktor, wie er meinte, er war Faktotum geworden – aber gerade dadurch zum Faktor, zum Unersetzbaren.
Die Hertha verwechselte mittlerweile die Dinge. Man konnte sie alleine nicht mehr wirtschaften lassen. Aber auch ein Küchenmädchen war nicht mehr leicht zu kriegen. Die jungen Dinger hatten beinah alle Anstellung in der Industrie gefunden. Und so wurde Viktor nach und nach zum Küchenhelfer in der Seewirtschaft, machte, was früher die Frauen gemacht hatten und in den Städten schon die Italiener und die Griechen machten und nun bald die Türken machen würden, und wer weiß was noch für unbekannte Internationalitäten, denen man vor fünfzehn Jahren höchstens mal im Krieg begegnet war, aber nicht im Alltag und vor allem nicht im eignen Land.
Viktor war der erste Ausländer geworden im Seewirtshaus. Und weil er es so gut machte, über Jahre hinaus auch der einzige. So konnte er sich auch die Zeit stehlen, die er gerade hinter dem Holunderstrauch verbrachte, hingekauert wie ein Tier. Keiner schaute nach, um ihn an eine Arbeit hinzutreiben. Keiner fragte ihn am Abend, was er den ganzen Tag getrieben habe. Dreimal setzte er sich hin zum Essen, dreimal täglich wurde aufgetischt und abgeräumt danach. Am Abend legte er sich in ein frisch bezogenes Bett, bezogen von der Frau des Seewirts, jeden achten Tag. Und bekam ein Taschengeld, so viel, dass alles, was er brauchte: das Bier, den Schnaps, den Schokoladenriegel jeden zweiten Tag, bezahlt war und die jeden Samstag von ihm selber frisch gewichsten Schuhe auch. Und es blieb vom Geld noch so viel über, wie er brauchte, um jedes Jahr einmal die Hose und das Hemd gegen je ein neues einzutauschen. Die Rente, monatlich 350 Mark, die er als Vertriebener und früherer Prokurist der Dresdner Bank erhielt, die legte er in Festgeld an – für Zeiten, die vielleicht mal wieder schlechter würden sein als diese.
Das alles hatte er der Kohlrab aufgezählt, als sie ihn verließ und vorher noch zum Mitgehen überreden wollte, alles, eines nach dem andern. – Und ich?, hatte sie gefragt, – und ich? Welchen Wert hab ich? – Das hat er damals einfach ignoriert. Er begriff den Schmerz der Frage nicht. Die Kohlrab war in seiner Rechnung inbegriffen, doch ohne jeden Rechenwert. Deshalb kam sie in der Aufzählung nicht vor. Deshalb konnte er ihr keine Antwort auf die Frage geben. Er spürte den Bedarf der Kohlrab nicht, weil er nur den eignen spürte. Er überhörte ihre Frage, ohne jeden Selbstbezug. Er fühlte sich ganz einfach nicht gemeint.
Jetzt flicht die Frage Kränze seinem Hirn. Sehnsuchtsgirlanden spotten der Gefühle. Er, verschrumpelt unterm Hollerstrauch, ein Elendshäufchen, versteht nun alles, kann es aber nicht mehr richten.
Früher brauchte er das Fernglas, um den Russen auszusuchen, den es aus der gegenüberstehenden Phalanx zu schießen galt. So viel gelebtes Leben wie im Krieg war nie, dachte er, in meinem frühen Leben nicht und nicht im späten. Man war dem Tode nah, und nahe war man auch den Kameraden, solchen, wie es sie später nie mehr gab. Die Gier nach Frauen war so leicht zu stillen, leichter als zuvor und leichter als erst recht danach. Wenn auch die Frauen sich nicht immer freiwillig ergaben, so war
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