Mittelreich
groß wirkenden Familienzimmer und dachten, jedes für sich, an die Kinder. Manchmal legte der Seewirt den Fliegenden Holländer auf oder eine andere Wagneroper, manchmal hörte er den Philipp aus Don Carlos , manchmal den Rigoletto , und jedes Mal wuchs sein Schmerz zum großen Wohlgefühl und schwoll an zum heroisch ertragenen Leid in heldischer Pose. Dann quollen Tränen in seine Augen, sein Gesicht wurde weich und verletzlich, und durch Tränenschleier hindurch sah er sich selbst in der Kleidung des buckligen Narren vor dem Hofstaat des Herzogs von Mantua stehen und flehentlich bitten: Gebt mein Kind, gebt mein Alles mir wieder! Und wenn dann die Seewirtin ihn ansah, die ihm gegenübersaß und kleine Pakete verpackte, mit ein wenig Butter, einem Stück Leberwurst und einer selber gemachten Marmelade drin und einer Suchardschokolade obendrauf, oder wenn sie frisch gewaschene Strümpfe stopfte, die mit dem letzten Paket voll schmutziger Wäsche gekommen und von einem der Kinder aus einem der Klöster geschickt worden waren, dann verlor sich ihr Zorn wieder, sie wurde weich und nachgiebig und wischte dem heulenden Seewirt die Tränen von den Backen. So saßen sie, bis ihnen die Augen zufielen und sie zu müde geworden waren, dieser Zärtlichkeit noch eine weitere im Bett folgen zu lassen.
Aber am andern Morgen dann, wenn keine Kinder zu wecken waren und kein Frühstück zu bereiten, wenn keine Pausenbrote zu streichen und kein heißer Tee in Thermoskannen abzufüllen und kein Hemd mehr schnell noch zu bügeln und keine Schuhe mehr zu putzen waren, dann kehrte die Feindschaft der Seewirtin gegen ihren Mann wieder und hielt sich den ganzen Tag. Mit den eigentlichen Urheberinnen ihres Schmerzes, den Schwestern ihres Mannes, sprach sie schon seit Jahren kein überflüssiges oder gar zugewandtes Wort mehr. Ihnen galt nun nur noch ihre ganze Verachtung.
In diesen Jahren, als mit dem Schilf auch die Laichplätze der Fische in den seichten Gewässern des Sees immer spärlicher wurden und der anfangs noch vielstimmige Gesang der demokratisierten Politik im Lande wieder eintöniger, weil im See nun die modernen Chemikalien in den ungeklärten Abwässern ihre Wirkung taten und in der Politik schon wieder die alten, autoritären Reflexe – in dieser Zeit, die weder alt noch neu genannt werden kann, auch nicht ungewöhnlich oder gewöhnlich, sondern die einfach nur anstand, in dieser Zeit wurden sich heranwachsende Männer und Frauen immer ähnlicher: Junge Frauen schnitten ihr Kopfhaar zu Bubiköpfen und rasierten sich an Beinen und Scham; statt Kleidern, Röcken und Blusen zogen sie sich T-Shirts und Hosen über; auch strickten sie an Feierabenden nicht mehr aus langen Wollknäueln Pullover und häkelten Deckchen, sondern saßen an modernen Nähmaschinen und kürzten ihre knielangen Röcke die Schenkel hinauf, nicht selten bis nah an die Schamgrenze heran; und am Abend hockten sie in Bars und Kneipen und tranken Bier und rauchten Zigaretten.
Junge Männer dagegen ließen sich nun ihre Haare bis zu den Schultern wachsen; sie durchstachen ihre Ohrläppchen und zwangen goldene und silberne Ringe hinein; sie kochten das Essen und spülten das Geschirr; sie wuschen ihre Socken selbst und herzten in aller Öffentlichkeit ihre kleinen Kinder – beinahe, als wären sie nicht mehr Herr ihrer selbst und ihrer Gefühle; und oft sah man Männchen und Weibchen auf der Straße aneinandergeschmiegt stehen und sich ungeniert küssen. Bestimmt war das alles schon mal da gewesen, denn jeder wusste sofort, woran er Anstoß zu nehmen hatte, trotzdem fiel es auf und war irgendwie neu.
Natürlich hatte diese Entwicklung nicht auf dem Land ihren Anfang genommen, sondern in den Städten, die nach und nach wieder aus der Asche erstanden und zu modernen Geschäftszentren ausgebaut worden waren, in denen es alles Mögliche zu kaufen gab, was vor dem Krieg noch nicht einmal erfunden war. Natürlich war vieles von dem, was da neu und ungewöhnlich schien, von den Amerikanern eingeführt worden, die mit ihrer materiellen Hilfe und ihren demokratischen Richtlinien und mit ihren kulturellen Exporten wie der Sprache und der Musik entscheidend Einfluss auf diese Entwicklung genommen hatten. Trotzdem überraschte die Geschwindigkeit, mit der das alles Fuß zu fassen begann, sich festsetzte und Gewohnheit wurde unter den Heranwachsenden, wie authentisch atmete und wirkte, so dass sich bald eine Kluft auftat zwischen Alt und Jung, die nach und nach von
Weitere Kostenlose Bücher