Mittelreich
Sobald er einen Vorteil erkannte, griff er reflexartig zu – auch dann, wenn es ihm nicht sofort persönlichen Gewinn versprach. Auf Dauer würden sich die Dinge für ihn zum Vorteil entwickeln. Und so ordnete er also in Übereinstimmung mit dem Seewirt an, dass jeder Mann, der sich der Wahl stellt, vor seinem Eintritt in das Arenaviereck vor aller Augen zuerst einen doppelten Selbergebrannten auf ex austrinken muss – Schnaps aus einer großen Gallone, den der Seewirt kurz nach dem Krieg, also vor bereits neun Jahren, als es legal noch beinah nichts zu kaufen gab, schwarzgebrannt hatte und der ihm damals – es war sein erster und gleichzeitige letzter Versuch – gründlich misslungen war. Nun aber, gegoren vom alkoholischen Getränk zu wirkungsvollem Gegengift, würde das Gebräu nach kontrolliertem Einsatz einem männlichen Sieger das Verlangen nach hemmungslosem, weil kostenlos zu habendem Alkoholgenuss schon bald wieder ausgetrieben haben.
Überhaupt lernte der Seewirt schnell und viel vom Schnapp. Dass in den letzten Jahren einigen Leuten aufgefallen ist, dass der Seewirt immer die meisten Kreuze unter die Frauenmasken macht, auch das war ein Ergebnis dieses Lernprozesses, und einmal, es war beim letzten Fasching, hörte man während der Prämierung der Siegermaske – es war wieder mal die einer Frau – sogar die Worte »Betrug« und »Beschiss« aus den hinteren Reihen der Zuschauer. Es kam nie endgültig heraus, wer genau es war, der so aufrührerisch dahergeredet hatte, aber einige tippten auf den Steindlmaier. Der hatte nämlich damals in wochenlanger Arbeit ein Kostüm geschneidert, das ihn wie ein Knochenskelett aussehen ließ und dem er selbst den Namen »Tod« gab, weil er auch noch eine Sense dazu in der Hand trug, und der trotzdem aus der damaligen Ausscheidung nicht als Sieger hervorgegangen war, weil der Seewirt eine Seejungfrau derart gehäufelt hatte, dass da eine ganz persönliche, wenn nicht gar private Neigung eine Rolle gespielt haben musste – oder aber eben doch die Kosten des ausgelobten 1 . Preises.
Aber wie dem auch war, heute spielt es schon keine Rolle mehr, und es deutet viel darauf hin, dass diesmal die Hitler maske gewinnen wird, denn es ist deutlich zu sehen, dass in dem braunen Anzug, den die meisterhaft geschminkte Person anhat, nicht ein Mann, sondern eine Frau steckt und noch dazu eine mit gewaltigem Vorbau.
Der echte Hitler Adi mit solche Glocken drin im Turm, raunt der Klarinettenfranz dem Trommelhuber zu, mit so einem hätten mir den Krieg gar nie verloren! Weil da die Russen mit die Panzer nur im Kreis herum gefahren wären, weil’s ihre Prügel nimmer ausm Lenkrad herausgekriegt hätten. Und viel weniger Juden wären auch vergast worden, toppt ihn gleich der Huber, weil sie die mit solche Ständer gar nicht in die Gaskammern hineingekriegt hätten.
Lang war die dunkle Zeit noch nicht vorbei. Gemessen an der gesamten Menschheitsgeschichte war man sogar noch mittendrin. Aber doch schon wieder lange genug draußen, offensichtlich, dass der gesunde Menschenwitz in der Seele des gestandenen Mannsbilds bodenständiger Herkunft schon wieder seine Keime sprießen lassen konnte. Sie redeten zwar noch nicht laut, die Franzenhubers und die Huberfranzen, aber immerhin redeten sie schon wieder.
Ein paar Jahre lang hatten sie schweigen müssen. Nur wenn beim Wirt alle Vorhänge schon zugezogen waren und kein Fremder mehr in der Gaststube saß, wenn genug Bier und ein paar Schnäpse die weichen Birnen noch weicher hatten werden lassen und die Sehnsucht nach Rechtfertigung des Gewesenen noch sehnsüchtiger geworden war – dann war auch in den letzten Jahren schon hie und da etwas von der trotzigen Aufsässigkeit zu spüren, die dem aufgepfropften Schuldgefühl mannhaft Paroli zu bieten bereit war, das alle haben sollten, wenn es nach den Besatzern gegangen wäre, aber keiner so richtig spüren konnte und wollte, der trotz allem unverbogen und standhaft geblieben war.
Wenn alles passte und die richtigen Leute beieinandersaßen, dann war es ein Leichtes, den verlorenen Krieg noch einmal genau durchzugehen und nachträglich zu gewinnen. Und auch wen der Führer und seine Mannen vergessen hatten damals, als die Zeit drängte und nicht mehr alles erledigt werden konnte, was noch zu erledigen gewesen wäre – das alles kam an solchen verschwiegenen Abenden zur Sprache und beschäftigte die Köpfe auch dann noch, wenn sie schon wieder nüchtern waren. Die Haut mag sich eng
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