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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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sich an die nicht ganz ungefährliche Arbeit. Denn der Sturm kann jederzeit wieder einen Baum aus seinem Wurzelgrund reißen oder einen dicken Ast abbrechen, der dann herabstürzen und einen der drei, wenn nicht gar alle drei auf einmal, verletzen oder sogar töten könnte.
    Im Seegrundstück auf der Südseite unterhalb des Hauses hat der Sturm, o Jammer!, die mächtige Eberesche entwurzelt, die hier die letzten hundert Jahre ihren Schatten auf die Badegäste geworfen und sie so vor Sonnenbrand und dunkler Haut bewahrt hat und die jetzt quer über der Straße liegt. Schon bald nachdem der Schnee geschmolzen sein wird, wird der Seewirt wieder einen neuen Baum gepflanzt haben, doch es wird bestimmt dreißig Jahre dauern, bis der auch nur annähernd wieder so breitflächig seinen Schatten wird spenden können, wie es bisher der alte getan hat. Jedoch wird sich in diesen dreißig Jahren die Mode der gebräunten Körper durchgesetzt haben, und das Lebensrecht der Eberesche wird dann statt eines praktischen ein nostalgisch ästhetisches geworden sein.
    Mit ruhigem, aber kraftvollem Schwung ziehen der Seewirt und der Valentin die fast zwei Meter lange Wiegensäge gleichmäßig durch den 200 Jahre alten Stamm, vor und zurück und wieder vor und zurück, bis der mächtige Baum in zwei Teilen daliegt. Dann beginnen sie, eine Straßenbreite weiter zur Baumkrone hin, den gleichen Arbeitsgang von neuem, während der Viktor die abgebrochenen Äste von der Fahrbahn räumt. Von einer Petroleumstalllaterne mit Windschutz kriegen sie das nötige, aber spärliche Licht. Bis die Säge sich ein zweites Mal durchs kerngesunde Holz gefressen hat, vergehen kaum fünfzehn Minuten. Nun ziehen sie zu dritt mit dem mitgebrachten Heuseil den herausgesägten Dreimeterstamm an den Straßenrand, so dass der Durchgang wieder ungehindert möglich ist. Aber im Moment ist niemand unterwegs. Der Sturm hat so zugenommen, dass sich niemand mehr nach draußen wagt.
    Auch von denen, die im Seewirtshaus den Fasching feiern, hat das niemand vor. Man hört laute Rufe durch das Wüten des Sturmes: Wirtschaft! Wo bleibt das Bier so lang, Herrgottnochmal! Und der Seewirt schickt den Valentin und den Viktor wieder nach drinnen, dass sie den Bierausschank weiter besorgen.
    Er selber ist in eine große Unruhe geraten. An so einen gewaltigen Sturm kann er sich nicht erinnern. Ihm ist das alles nicht geheuer. Er ist kein ängstlicher Mensch, aber das Un wetter hat jetzt ein Ausmaß angenommen, dass Sorge um die Unversehrtheit der Gebäude in ihm aufkommt. Vom Schlehenwinkel, zwischen Klosterried und Zeiselberg, jagen gewaltige Böen herüber und verfangen sich im Wipfel der andern großen Eberesche, die sich weit über die Straße hinüberneigt und genau aufs Haus herunterstürzen würde, wenn auch bei ihr das Wurzelwerk sich nicht mehr hielte. Das Unheimlichste an allem ist das fehlende, sonst donnernde Rauschen der brechenden Wellen vom See herauf: Der See ist zugefroren bis ans andere Ufer hinüber, der Sturm jagt unaufhaltsam übers Eis daher, und es scheint, als ob er über der glatten Eisfläche an Geschwindigkeit und Wucht noch gewönne, mehr, als es bei offenem Wasser je der Fall wäre. Die aufgewühlte, trockne Luft reißt Löcher in die treibende Wolkenflut, durch die der halbe Mond für Sekunden hindurchscheint und vom schwarz glänzenden Eis als verzerrtes Spiegelbild zurück- und in des Seewirts sorgenvollen Blick geworfen wird. Immer wieder durchbricht ein harter, trockner Knall die Nacht und treibt dann als jaulend heulender Pfiff über den See dahin, dass es übers Ohr durch Mark und Bein geht: Im Sturm beginnt das Eis zu brechen. Wenn die ersten Platten sich von der zusammengewachsenen Fläche gelöst und über- und ineinandergeschoben haben werden und eine eisfreie Wasserfläche entstanden sein wird, wird der Orkan das Eis im See vor sich her treiben und am Ufer zu gewaltigen Eisbergen aufschieben. Kein Steg, keine Bootshütte, keine Uferbefestigung wird dem standhalten. Das weiß der Seewirt. Er hat es einmal erlebt, am Lichtmesstag 1926 . Und nachher war alles eingeebnet, was bis zur Straße hinauf dem Eis aufrecht im Weg gestanden war.
    Weit nach vorne an den Wind gelehnt steht er auf dem schmalen Badsteg neben der Bootshütte und starrt aus engen Augenschlitzen hinaus auf die dunkle glatte Fläche. In staubi gen Schwaden treiben Schnee- und Eiskristalle knapp über der Eisfläche quer über den See daher und krallen sich beißend und brennend in

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