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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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können – vom absehbaren, womöglich gar das Leben des Fräuleins gefährdenden Zornesausbruch des Rittmeisters gar nicht zu reden –, sondern auch der Baron wäre bei einem Bekanntwerden dieser Schmach in eine solch lächerliche Lage versetzt worden, dass eine ambitionierte Zukunft für ihn höchst unsicher geworden wäre. Der Baron, dessen Güter weit im Westen lagen und den in der hiesigen Umgebung kaum jemand kannte, konnte diese Nachricht vom eigenen Tod auf dem Schlachtfeld lancieren, ohne dabei Gefahr zu laufen, als Betrüger überführt zu werden: Es genügte, wenn die Nachricht nur das Fräulein erreichte und er das Gut des Rittmeisters und das dazugehörige gesellschaftliche Umfeld für alle Zukunft mied – was ihm nach dem Er lebnis dieser einen, ihn fürchterlich demütigenden Nacht sowieso zur Pflicht geworden war.
    Er hatte in jener Nacht und an jenem Ort, als ihm ein unerhörter Schrecken in buchstäblich alle Glieder fuhr, in der aristokratischen Manier, in der er erzogen worden war, dem Fräulein, nachdem er dessen Schandmal zuerst berührt und es dann, im Lichte eines Junivollmonds, auch gesehen hatte, trotz eines schockähnlichen Zustands, in den er versetzt worden war, in vollendeter Höflichkeit erklärt, dass er weiter nicht gehen und dieses heilige Sakrament erst nach der Eheschließung vollziehen wolle. Für das Fräulein bedeutete dieser Satz die Verlobung mit dem Baron, und es fühlte sich von diesem Moment an als seine Braut. Anschließend brachte der Baron das Fräulein, so wie es sich gehörte, in der Chaise, in der sich das Ganze nach dem gemeinsamen Besuch einer großen Militärparade zu Ehren des deutschen Kaisers zugetragen hatte, nach Hause und fuhr danach ins nächstgelegene Dorfgasthaus, um dort, unter Zuhilfenahme mehrerer Flaschen roten Weins wieder zu sich selbst zu finden. Zwei Tage später dann erfolgte sein Besuch bei der Frau des Rittmeisters, wo der gemeinsame Plan ausgeheckt und beschlossen wurde.
    Die Nachricht vom Heldentod des Barons erreichte das Fräulein vier Wochen nach dem Ausbruch des Krieges und prägte dessen ganzes zukünftiges Leben. Eine Korrektur dieser seltsamen Intrige zwischen der Frau des Rittmeisters von Zwittau und dem Baron von Kleist wurde nie mehr vorgenommen. Es muss also davon ausgegangen werden, dass das Fräulein, möglicherweise bis an sein Lebensende, zumindest aber bis zu dieser Begebenheit am Vorabend seiner Abreise aus dem falschen Elternhaus, das ihm bis dahin eine unbeschwerte Kindheit und ein Erwachsenenleben als trauernde, aber gut versorgte ewige Braut gesichert hatte, kein Bewusst sein von der Besonderheit seines primären Geschlechtsmerkmals erlangt hatte.
     
    Das Fräulein hatte sich nie wirklich etwas vorgenommen in seinem bisherigen Leben, es hatte sich nie eine Vorstellung davon gemacht, was das Leben hätte sein können, wie eine Zukunft zu gestalten gewesen wäre oder die Gegenwart zu verändern. Es hat nie nach vorne geschaut, nur immer zurück, auf jenen einen Tag, an dem es zuerst in Begleitung des Barons von Kleist eine Parade zu Ehren des Kaisers besucht hatte und danach an einer Körperstelle, die es bis dahin nie besonders an sich wahrgenommen hatte, eine Berührung durch des Barons Hand erfuhr, die im Nachhinein auf das Fräulein wie der Beginn des Lebens an sich, wie die Verschmelzung alles Gegenwärtigen mit dem Zukünftigen zu einem ewigen Glück gewirkt hatte. Als ihm nach kurzer Zeit der Baron wieder entrissen wurde, beendete das dieses neu gewonnene Gefühl nicht, sondern es wurden ihm nur zusätzlich noch Trauer und Verzicht beigemengt – aber nicht als Minderung, vielmehr als schmerzlich empfundene Vertiefung des Glücksgefühls.
    Nachdem es dann die Verwaltung des elterlichen Gutes übernommen hatte, war das Fräulein für eine kurze Zeit herausgerissen worden aus dieser Existenz des Zurückgewandt-Seins. Aber mit dem Blick der Soldaten auf seinen nackten Körper kehrte der alte Zustand Melancholie wieder, und es war nun absehbar, dass dieser erst enden würde, wenn zu Ende ginge, was ihn begonnen hatte: das Erinnerungsvermögen.
     

     
    Jetzt stand das adelige Fräulein von Zwittau als einfaches Fräulein Zwittau zwischen der Hertha und der Brieftaube in der Türe zum Tanzsaal im ersten Stockwerk des Seewirtshau ses und schaute dem Faschingstreiben zu. Und wer genau hingeschaut hätte, hätte sehen können, dass sich alle drei, trotz deutlicher äußerer Unterschiede, irgendwie ähnlich sahen. Aber

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