Mittelreich
niemand mehr schaute hin.
Es ist der 27 . Februar, und es ist das Jahr 1954 . Beim Seewirt ist Feuerwehrball. Es ist zehn Uhr am Abend, und eine Jury ist dabei, die gelungenste Verkleidung auszuwählen. So was hat es zwar früher nie gegeben, aber seit die Flüchtlinge und andere sonstige, irgendwie vom Krieg hierher Verschlagene sich zu solchen Anlässen wie dem Feuerwehrball unter die Einheimischen mischen, sind auch zu den alten Gebräuchen neue dazugekommen. Einer davon ist die Prämierung der gelungensten Verkleidung. Vor dem Podium, auf dem die Senkendorfer Zehn-Mann-Blaskapelle aufgebaut ist, hat man einen Biertisch und eine Bierbank aufgestellt, auf der die Mitglieder des Schiedsgerichts hocken. Das sind der Maler Brustmann, der Friseur und Bauchladenverkäufer Schnapp, die Tochter des verstorbenen Malers und Bildhauers Lassberg und der Seewirt selber. Zwei der Schiedsrichter haben sich freiwillig gemeldet, dem Seewirt, als dem Hausherrn, ist der Richterposten Pflicht, und nur der Maler Brustmann musste geradezu genötigt werden, der Jury beizutreten, da er ein ruhig veranlagter Mensch ist und auffälliges Auftreten für ihn ein Gräuel. Er hatte nicht einmal vorgehabt, überhaupt am lauten Faschingstreiben teilzunehmen, und war eigentlich nur aus dem Nebenhaus herübergekommen, um, wie jeden Abend, sein Abendbrot einzunehmen, unten in der Gaststube im Parterre. Und er war danach eigentlich nur kurz nach oben gegangen in den ersten Stock und hatte einen Blick in den Saal und auf die darin herrschende Ausgelassenheit werfen wollen, nur um sich bestätigt zu finden darin, dass die Ruhe seines kleinen Ateliers und die ihn ständig for dernde Gesellschaft seiner Staffelei ihm um ein vieles mehr an Lebensfreude brächten als dieses aufgepumpte Hecheln und Stampfen. Aber da hatte ihn die laute und grelle Lassbergtochter Fricka, von deren Vater er als Student der hauptstädtischen Kunstakademie zu Anfang des Jahrhunderts noch unterrichtet worden war, schon gesehen gehabt und vor aller Augen, undamenhafter als jede Stallmagd es hingekriegt hätte, in den Schwitzkasten genommen und auf die Bierbank gezerrt. Da sitzt er jetzt und traut sich nicht mehr weg, denn das würde abermals Aufsehen erregen. Also sitzt er zusammengesunken da und schaut wenig faschingsmäßig drein – und wirkt gerade dadurch besonders gut verkleidet.
In drei Reihen stehen die Ballbesucher entlang der vier Wände in dem einen der zwei großen Säle, es ist der Tanzsaal, der vom Bügeltisch, den Zusatzbetten und Nachtkästchen, die ihn ansonsten das ganze Jahr über füllen, geleert worden war, und bilden eine Arena. In deren Mitte treten, jeweils angekündigt von einem Tusch der Senkendorfer, nach und nach die einzelnen Masken und stellen sich, sich drehend und wendend, den Blicken des Publikums und der Schiedsrichter. Die haben alle Zettel in der Hand, die der Seewirt zuvor aus dem Rechnungsblock einer der drei Kellnerinnen herausgerissen und mit je einem Bleistiftstummel zusammen vor sie auf den Tisch hingelegt hat. Darauf schreiben die vier Juroren die Titel der jeweiligen Masken, die vom Seewirt nach einem interpretierenden Blick auf die Verkleidung festgelegt werden und so heißen wie: Prinzessin, Jäger, Scheich, Rotkäppchen, Negerhäuptling, Wilderer, Araberin, Haberfeldtreiber, Sennerin, Jude, Hausierer, Feine Dame, Wildkatze, Seeräuber, Hitler und so weiter, und machen dann darunter die Anzahl der Kreuze, die der jeweiligen Maske zugestanden werden. Am Schluss werden die Kreuze der einzelnen Masken zusammengezählt, und wer die meisten kriegt, ist Ballsieger – oder Ballsiegerin – und kriegt alle Würste, Kuchen und Schweinebraten, die er verträgt, umsonst. Die Getränke sowieso. Damit aber der Seewirt nicht alleine alle Kosten des Preisgeldes zu tragen hat, haben sich jeder Bewerber und jede Bewerberin, die sich der Wahl stellen, zuvor mit einer Mark in ihre Wahlfähigkeit einkaufen müssen, deren gesammeltes Ergebnis jetzt in einem Silberteller auf dem Schiedsrichtertisch liegt.
Der Vorschlag für diese Regelung kam vom Friseur Schnapp, der nach dem Krieg aus der Puszta gekommen war und sich schon bald nach seiner Ankunft als gewiefter Geschäftsmann zu erkennen gab, indem er auf der Negerwiese draußen, auf der Wiese am Seefeld, gleich außerhalb des Dorfes, da wo die Amerikaner lagern, und die seitdem Die Negerwiese heißt, weil unter den acht amerikanischen Besatzungssoldaten einer ein hautechter Neger ist, und einen
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