Mittelreich
sein Gesicht. Ein schabendes Geräusch zieht seine Aufmerksamkeit an. Weit draußen auf dem Eis schlägt hartes Holz auf harten Untergrund und geht über in ein rhythmisch fauchendes Schaben: Fchchch... fchchch... fch.fch.fch.fch... Fchchch..fchfchfch... fch.fch. fch.fch. Das vermengt sich mit dem hellen Knall, mit dem das Eis zerbricht, und steigert sich am Schluss zu einem zarten, fast unhörbaren Ton eindringlicher Harmonie, wenn Knall und Überschlag des Knalls ins langgezogene Pfeifen am andern Ufer enden und eingegangen sind ins Heulen dieses unersättlich gieren Sturms.
Aus der schwarzen Nacht heraus, im treibenden Mondlicht, rast ein kleines flaches Ding daher, gleitend und hüpfend tanzt es übers Eis und gewinnt, je näher es herankommt, langsam an Kontur: Ein Boot hat sich losgerissen auf der anderen Seite des Sees, eine leichte Jolle ist es, die vor der Kälte keiner mehr an Land gezogen hat, deren Bojenkette vom wachsenden Eis zerrieben worden ist und die jetzt, entfesselt wie der Sturmwind selber, der sie treibt, wie ihm zugehörig übers Eis gejagt wird, mit unerhörter Schnelle, welche sie, vor gleichem Wind im offnen Wasser, niemals würde je erreichen können, selbst mit aufgezognem Segel nicht. Übermannt vom Schauspiel der Natur starrt der Seewirt auf die wilde Jagd und spürt nicht Angst noch Sorge, so sehr hat der Sturm ihn angehoben. Seine Brust will bersten wie das Eis im See. Voll Weltschmerz und Eigenliebe ist sie, voller Verantwortungsgefühl und einem überwältigenden Ich: Steuermann lass die Wacht, Steuermann her zu mir – reinstes Wagnerwetter, denkt er ernst, und dann schießt das Boot haarscharf am Steg vorbei und schnellt wie ein Pfeil ans Ufer und brettert über die Böschung hinauf kerzengerade hin an die Eberesche, an der es krachend zerbricht. Das war jetzt aber knapp, denkt der Seewirt, arg knapp, sakra sakra! Und verlässt den Steg, wieder ernüchtert, der ihm nicht mehr geheuer scheint.
Er läuft hinauf zum Haus. Unruhe treibt ihn. Den Kopf im Nacken, geht er die ganze Wetterseite des Hauses entlang und sucht das Vordach ab mit seinem Blick. Noch kann er keinen Schaden sehen. Doch ist er jetzt geplagt von Ahnungen: Er sieht immer alles schwarz. Was ungut ausgehen könnte, ohne dass es muss, da sieht er allzu gern zuallererst das Unglück kommen.
Wieder rast eine Böe übers Eis daher, hebt an mit dem Ufer und prallt hin an die Hauswand wie ein riesiger, unsichtbarer Gummiball, schießt die Wand hoch und presst sich hinein unter das Vordach mit beinahe vulkanischem Druck. Die Marder im Speicher oben ducken sich ängstlich in die Wärmedämmung aus Bauschutt und Gerstenstroh und glotzen mit weit aufgerissenen Augen schüchtern aggressiv auf das so noch nie gehörte Ächzen im Gebälk knapp über ihren Köpfen, bereit, sich mit ihrem Leben zu verteidigen.
Der Seewirt umrundet einmal das ganze Gehöft, klaubt ein paar abgebrochne Zweige aus der Auffahrt zur Scheune und betritt dann durch die alte Eichentüre auf der Rückseite wieder das Gasthaus.
Das laute Treiben ist noch lauter geworden, die Stimmung ausgelassener, die Rufe über die Tische hinweg werden ordinärer, ein ständiges Gehen und Kommen zu und von den Toiletten zeugt von der gewachsenen Erregung und einer gesteigerten inneren Umtriebigkeit der vom Tanzen aufgeputschten Menschen unterm Alkohol.
Auf einem abgeräumten Tisch, mit unbewegter Mimik, tanzt die Hitlerfrau mit aufgeschlitztem Hosenbein den spa nischen Flamenco. Dicht steht die Meute ungebundner Männer um den Tisch herum und klatscht im Rhythmus der Musik den Urtrieb wahllosen Begehrens an die Luft. Andere schauen aus Augenwinkeln nah an Gattinnen vorbei, aus der selbstgewählten Ehegruft heraus, hinauf zur selbsternannten Göttin.
Mit erregenden Gebärden hat die Göttin im Gewand des alten Gottes ihre braun gesprenkelte Krawatte von ihrem marmorweißen Hals geknotet und dabei mit obsessivem Schwung gleich noch die oberen drei Knöpfe mit herausgerissen. Mit nasser Zungenspitze netzt sie ihre roten Lippen, mit ölgetränkten Blicken schaut sie, aus schwarz ummalten Augen, aus der geilen Höhe hinunter in das gierige Verlangen unter ihr. Das ist ja ... unerhört!, schimpft die Philomena, des Seewirts sittenstrenge Schwester, die in der Tür zum Saal, wie jedes Jahr um diese Zeit, ihren angestammten Posten für Geschlechtertrennung und Moral bezogen hat. Diese schamlose Person! Wer ist das überhaupt? – Das ist doch die Frau Meinrad, die Cousine
Weitere Kostenlose Bücher