Mittelreich
nur zwei Tage lang, während deren sie sich in ihrem Zimmer aufhielt und auch zum Essen nicht erschien. Für sie war der Tod schon ein naher Verwandter. Sie musste ihm nicht mehr trauernd in den Rücken fallen und ihn mit Vorwürfen beladen. Sie und er befanden sich schon im Aufgebot.
Der Valentin und der Viktor schaufelten dem Lux in einer entlegenen Ecke des Gemüsegartens ein Grab, und die Kinder des Seewirts schmückten den Erdhügel nach dem Vorbild der Grabstatt der alten Seewirtsleute auf dem Kirchgruber Friedhof. Ein paar Jahre lang wölbte er sich noch, steinbeschwert, damit kein wildes Tier dem verwesenden Leichnam was anhaben konnte, wie der Bauch eines schlafenden Riesen unter einem Holunderstrauch. Manchmal hockten die Kinder im Kreis um den Grabhügel herum und verfolgten den Kriechgang der Maden, die an heißen Tagen dem Hundegrab entflohen. Denn tief hatten die beiden Knechte nicht gegra ben, als ihnen der Seewirt den Auftrag zum Grabschaufeln erteilt hatte, tief war das nicht gerade. Aber danach wurde der Hügel eingeebnet. Man brauchte Platz für ein Blumenbeet. Frische Schnittblumen auf dem Tisch würden den Gästen zeigen, dass sie willkommen sind, hatte der neue Betriebsberater, der vom Hotel- und Gaststättenverband geschickt worden war, bei seinem Antrittsbesuch empfohlen – den hatte es früher auch nicht gegeben. Ein neuer Hund wurde auch nicht mehr angeschafft.
Es ist nicht korrekt, wenn behauptet wird, dass nach dem Tod des Tucek kein neuer Knecht mehr angeheuert wurde. Noch im Frühsommer des folgenden Jahres, also nur knappe eineinhalb Jahre nach des Tuceks unerhörtem Abgang, wurde der Bauernsohn Johann Ziegltrum aus Niederbayern als neue Arbeitskraft beim Seewirt eingestellt. Das hatte seinen Grund.
Keiner von den bisherigen Knechten besaß einen Führerschein, weder der Viktor noch der Valentin und schon gar nicht der damals noch lebende Alte Sepp. Auch war der Tucek beim Seewirt als Tagelöhner angestellt. Er wurde immer nur dann geholt, wenn man ihn wirklich brauchte. Brauchte man ihn nicht, überließ man ihn sich selbst. So war es üblich. Bedenken dagegen waren den bestehenden Verhältnissen fremd. In Zukunft aber konnte man auf ein Beschäftigungsverhältnis dieser Art verzichten. Die meiste Arbeit würde nun mit Hilfe eines Traktors schneller und billiger, insgesamt mit höherer Effizienz erledigt werden.
Für den Tucek also hätte es beim Seewirt sowieso keine Aussicht mehr auf Lohnarbeit gegeben. Seinen Freitod konnte man, so besehen, durchaus in einem milderen Licht betrachten; er war aus Sicht des Seewirts weniger dramatisch, als er sich im ersten Moment, der vor allem ein gefühlsbetonter Moment gewesen war, dargestellt hatte. Für den Seewirt war des Tucek selbst herbeigeführtes Ende, sowohl materiell als auch ideell gesehen, ein günstiger Zufall gewesen. Wäre sein Taglöhner Tucek durch Alter oder Krankheit umgekommen, hätte der Seewirt womöglich die Familie des Toten sozial abfedern müssen. Und zwar von Amts wegen. Das konnte er – und tat es auch – jetzt freiwillig tun und nebenher sein öffentliches Ansehen damit heben: Er galt von nun an einmal mehr als Mann, der sich seiner sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung nicht entzog – und, kann man getrost hinzufügen, zu einem gewissen Maße sogar nicht einmal der historischen Last, die seinem Lande aufgetragen war. Obwohl er persönlich sich nie hatte etwas zuschulden kommen lassen, wie er bei entsprechenden Gelegenheiten immer betonte. Der Seewirt stützte die Familie des Tucek – obwohl es sich bei ihr, wie alle wussten, um eine Kukucksfamilie handelte – mit einem ganzen Jahresarbeitslohn des Tucek. Aus Kulanz, wie er sagte, und weil ihm das persönliche Schicksal des Tucek, von dessen ganzem tragischem Ausmaß er erst kurz vor dessen Tod bei einem sehr anrührenden, intimen und von gegenseitigem Vertrauen getragenen Gespräch erfahren habe, doch sehr nahe gegangen sei.
Wenn nun also nur er, der Seewirt, den Traktor bedienen konnte, dann blieb ihm für die vielen anderen Dinge, die er auch noch zu erledigen hatte (er war seit kurzem Mitglied im Gemeinde- und im Kirchenrat), einfach zu wenig Zeit.
Im Landwirtschaftlichen Wochenblatt schrieb er bereits zu Jahresbeginn, als der Tucek also noch lebte, eine Stelle für einen Knecht mit Fahrerlaubnis aus. Diese Stelle könne jedoch erst im Frühsommer des kommenden Jahres angetreten werden, da betriebstechnische Umstände dieser langen
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