Mittelreich
zu spät. Das uneinheimische Kind hatte auch sofort nach der Meldung des Unglücks seine Eltern geholt, aus dem dritten Haus gleich nebenan, und der Viktor hat die Frau Hiltrud aus ihrem Laden geholt, das hatte der Reitz gesehen und war über den Bretterzaun herübergestiegen; der alte Elfbauer, der vor dem Haus – weil da die Haltestelle war – auf den Bus in die Kreisstadt gewartet hatte, riskierte diesen zu versäumen und kam langsam das Bergerl zum Misthaufen heraufgegangen, eher uninteressiert, denn Kleinvieh hatte bei ihm wenig Konjunktur. Trotzdem! Auch der alte Elf! Aber auch er, ohne einen brauchbaren Rat zu wissen. Die Alte Mare war da, der Fechtner, die Brieftaube und die Hertha, der Seewirt nicht, der war mit dem Valentin beim Bäume-Selektieren im Wald, und vom Klofenster aus, im zweiten Stockwerk, schaute der Wetzel Bepp herunter, der Schwiegersohn des VDK -Schneider, angewachsen in sich selber wie immer, bleich wie der Mond und durchsichtig und wie eine böse Krankheit Trauer im Gesicht, wie einen Fluch. Ein Siebenbürger Sachse, nicht nur am Ende seiner Flucht, sondern lange schon am Ende seines Lebens – ein Untoter im Seewirtshaus im zweiten Stock, sagte der Seewirt immer, wenn kein Fremder zuhörte –, auch der hatte sich aufgerafft, hatte sich herausgewuchtet aus seinem Oblomowsessel und war den ganzen Hausgang herüber von der Süd- bis zur Nordseite gehumpelt, hatte seinen Körper aus der Lethargie herausgerissen und seinem abgestumpften Geist noch einmal einen letzten hellen Schein gewährt, eine kleine Aufregung in die vollkommene Teilnahmslosigkeit hinein. Sein Gesicht! Oben am Fenster! Der Wetzel Bepp! Nie mehr wird sich dieses Bild vom Ende aller Zeit in Semi je verflüchtigen: das Bild des Wrack gewordenen Schuldgefühls ...
... und alle Kinder des ganzen Hauses waren da, und standen zwischen den Erwachsenen herum um das Odelgrubenloch, dem Loch gefährlich nah. Immer wieder wurde eines zurückgerissen, denn leicht hätte sich bei dem Gedränge von hinten her ein ungewollter Stoß nach vorne bis zum Lochrand weiterpflanzen können, und zum Entlein wär auch noch ein Kindelein hineingefallen in den Brunnen – die Odelgrube meine ich. Und dann kam der Alte Sepp mit der Leiter, ist hinabgestiegen in die stinkende Schwärze, hat das Entlein ertastet, hat es an seine Brust genommen mit der einen Hand und ist die Leiter wieder heraufgeklettert mit Hilfe seiner andern. So ist es gewesen. Oben hat ihm die Seewirtin das kleine Entlein abgenommen und hat es vorsichtig in ihrer hohlen Hand in den Stall getragen und da in ein Körbchen gesetzt. Dann hat sie alle, die bei der Rettung zugeschaut oder anderweitig geholfen haben, aufgefordert, in die Küche zu kommen und sich dort um den großen Tisch zu versammeln, zur Feier des glücklichen Ausgangs dieses Ereignisses. Und während es sich alle in der warmen Küche drin gemütlich machten und das Geschehene noch einmal bis ins Detail hinein besprachen, machte die Seewirtin im großen Wasserkessel, den sie auf das offene Küchenofenfeuer stellte, das schon im Wassergrand des Herdes vorgewärmte Wasser kochen und trug dann, als es richtig brodelte im Kessel, diesen durch den Gang hinüber in den Stall. Dort holte sie das noch ein wenig ängstlich eingestellte Entlein aus der Kiste und dem warmen Stroh und drehte ihm mit einem raschen Griff den Hals herum. Dann brühte sie das tote Entlein mit dem kochend heißen Wasser mehrmals ab, um ihm hernach seine Federn auszurupfen, und trug das nackte Ent lein schließlich in die Küche und brutzelte es da in feiner Butter in der großen Pfanne auf dem schwarzen Herd.
Alle haben ein kleines Stückchen bekommen, alle, die um den großen Küchentisch herum versammelt waren, jeder Mann und jede Frau und jedes Kind, alle, die da waren, alle und jedes haben einen kleinen Bissen abbekommen. Und danach sind sie alle wieder auseinandergegangen. So war das.
Der Alte Sepp starb noch im folgenden Herbst, unmittelbar nachdem die letzte Fuhre Grummet in die Scheune eingefahren war, an einer Thrombose. Schlaganfall. Der alte Fechtner ging zum Jahresende als Rentner in die Kreisstadt. Über blieben nur mehr der Valentin und der Viktor und die Alte Mare. Der Lux lebte noch über ein Jahr lang gemeinsam mit ihr zusammen in ihrem Zimmer, bis er an einem heißen Sommernachmittag, nachdem ein schweres Gewitter niedergegangen war, von ihr tot unter ihrer Bettstatt herausgezogen wurde. Die Mare trug es mit Fassung und trauerte
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