Mittelreich
eingehandelt hatten, wieder heraus. Anfangs war das noch eher so eine Art mürrisch ertragene Pflichterfüllung, unter der Knute der Besatzung. Die Militärverwaltung erließ Anordnungen, und die wurden befolgt. Was konnte man auch machen? Zum einen lag das Gewaltmonopol ganz eindeutig in Händen der Besatzer, und zum anderen war es gar nicht so einfach, sich damit vertraut ma chen zu müssen, dass alles, aber auch wirklich alles schlecht gewesen sein sollte während dieser vergangenen ein Dutzend Jahre, in denen das Land Weltpolitik im bisher nicht dagewesenen Stil betrieben hatte. Schließlich war in diesen zwölf Jahren ein nationales Selbstbewusstsein in die Menschen hineingewachsen, das jetzt auf einmal nichts mehr gelten durfte. Man brauchte die ersten Jahre dazu, sich überhaupt erst einmal wieder zurechtzufinden in der neuen Lage. Man ließ die neuen Verordnungen an sich abtröpfeln, indem man sie so genau befolgte wie nötig, geradeso, wie man die Schuldvorwürfe an sich abtröpfeln ließ, indem man sich zu ihnen bekannte so schuldbewusst wie möglich. Und die ungemütliche Stellung des Kotaus wurde dementsprechend denn auch gar nicht zu sehr strapaziert und nicht zu lang. Denn auch die Sieger konnten mit dieser gebückten Haltung auf Dauer wenig anfangen, weil aus ihr keine Energie zu ziehen und aus keiner Energie kein Gewinn zu schlagen war. Bald war man des Kotaus als dem Wesen des Hundes zugehörige, aber in bestimmten Situationen auch für den Menschen brauchbare Demutshaltung wieder überdrüssig, weil man erkannt hatte, auf beiden Seiten, dass kein neuer Staat damit zu machen war, und begann also, sich zügig wieder in den aufrechten Gang zurückzuverbiegen. Ein Führer, der diesen Gang vollends beherrschte, war schnell gefunden und mit ihm ein neuer Staat auch bald gegründet: der Adenauerstaat. Und wie damals aus der Odelgrube taucht jetzt der Alte Sepp auf einmal auf, der beinah schon vergessene Knecht, und mildert diese Adenauerzeit ein wenig, ohne sie zu mindern. Denn niemand wusste, was in ihm vorging, damals, als er ganz alleine, drunten in der dunklen Odelgrube, unter all den zentimeterdicken Maden in der furchtbaren Scheiße herumtappte. Und er hat auch kein Wort darüber verloren danach. Er hat sich nur ausgezogen, bis auf eine gräulichbräunlich gelbe Unterhose, und ist in den See hineingegangen. Da blieb er eine Zeit lang drin, trotz der Kälte, denn es war noch nicht mal Frühjahr, wenn ich mich recht erinnere, eine ganze Zeit blieb er da drin, und man konnte sehen, wie er langsam blau wurde. Und als er herauskam, sagte er nur: Das muss langen. Und dann ging er in sein Zimmer, direkt neben dem Stall, und ignorierte das Angebot der Seewirtin, ihm im Badezimmer ein heißes Bad anzurichten, oben im ersten Stock, wegen der Gesundheit. Nichts da, sagte er, so was geht auch ohne Bad.
Dieser Alte Sepp! Nein so was!
Er war, ohne zu zögern, in voller Montur auf einer Holzleiter hinunter in die halbvolle Odelgrube gestiegen, als eines der jungen Entlein, das noch rundherum ein gelbes Federkleid trug, so jung war es noch und deshalb so beliebt, als dieses Entlein in die Odelgrube hineingefallen war, mitten am helllichten Tag, und, statt direkt unterm Loch zu bleiben, durch das es gefallen war und durch das man es hätte mit einem Fischbären wieder herausfischen können, in der Odelgrube ganz nach hinten geschwommen war, das dumme Entlein, wo nichts mehr hinreichte, nichts, kein Arm und keine Stange, kein Fischbären! Da hinten blieb es, in einer ganz dunklen Ecke der Odelgrube, wo niemand es mehr sehen konnte, und kein Locken und kein Bitten half. Leute hatten sich um das Odelgrubenloch versammelt, viele Leute, Männer, Frauen, Kinder, Greise, und immer mehr kamen dazu. Als Erstes war die Seewirtin hinausgerannt, hatte in der Küche alles stehen und liegen lassen, obwohl es doch schon kurz vor Mittag war und die Gefahr, dass was anbrennen könnte, groß, war weggerannt aus der Küche und hinüber in den Stall und von da hinaus auf den Hof und hin zum Odelgrubenloch, sofort nachdem das hochdeutsch sprechende Kind aus dem dritten Haus gleich nebenan in der Küche aufgetaucht war und gesprochen hatte: Ein Tier ist in den unter irdischen Teich gefallen. Was für ein Tier?, hatte die Seewirtin noch gefragt und das Kind streng beäugt. Was für ein Tier? Und da hatte das Kind verängstigt geantwortet: So ein gelbes rundes. Aber dann ist sie sofort losgerannt, die Seewirtin, und trotzdem war es schon
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