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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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ausgeschaut wie nach dem Kalben. Als der Doktor wieder weg war, hat die Mutter dem Vater große Vorwürfe gemacht, dass er wegen einer solchen Kleinigkeit gleich den Doktor hat kommen lassen. So was käme doch bei der Arbeit immer wieder mal vor. Noch dazu jetzt, wo es mit dem Geld so knapp bestellt sei wie schon lang nicht mehr, könne man sich das am allerwenigsten erlauben. Den Verband hätt mir auch die Maria anlegen können, sagte die Mutter, Verbandszeug wäre genug da. Am andern Morgen ist ihr beim Melken auf einmal schlecht geworden, und sie hat sich auf das Fensterbrett aufstützen müssen. Die ganze Milch hat sie ausgeschüttet, die schon im Kübel war, mit einer fahrigen Bewegung. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, als sie langsam zusammensackte unterm Fensterbrett, die Wand herunter. Komisch geschaut hat sie, ganz stier. So wie jetzt, als die Theres sie fragt, ob sie wirklich einen zu großen Kopf habe. Aber die Mutter antwortet nicht. Sie schaut gradaus und rührt sich überhaupt nicht mehr, obwohl sie aufrecht da sitzt, drin im Bett, auf dem Sofa, an die zwei großen Kopfkissen hingelehnt.
    Willst noch eine Spritze, Mutter?, fragt die Theres sie, soll ich dem Vater sagen, er soll den Doktor noch mal holen? Weil die Mutter weiter so stier schaut, rennt das Kind nach draußen in die Küche. Aber die ist menschenleer. Der Vater und der Dinewitzer sind schon weg. Das Mädchen rennt über den Hof und sucht, wen, ist ihr gleich. Aber jemand, der das Schuldgefühl ihr nehmen könnte, soll es sein. Der Blick der Mutter ist jetzt drin in ihr und sticht. Eine Blutvergiftung könnte es sein, hatte der Doktor Pachie gesagt, wie er das zweite Mal da war, um ihr die Spritze reinzustechen. Danach wurde der Mutter ihr Blick wieder normal. Sie wünscht sich, dass ihr der Doktor noch mal eine Spritze geben möge, der Mutter, die Theres, weil sie jetzt regelrecht Angst spürt vor diesem Blick. Dass der Doktor den Blick wegspritzt, wünscht sie sich. Vater!, schreit sie, Vater! Dann kommt wenigstens die Susi, die zweite Schwester, aus der Scheune, heustaubschwarz verschmiert im Gesicht überm Schweiß, und schimpft, weil sie so laut schreit. Die Rita schläft doch noch! Du weckst sie ja auf mit dem Geschrei. – Die Mutter schaut wieder so, sagt die Theres, und ihr ist ein wenig leichter geworden innerlich, wie die Schwester aufgetaucht ist. Obwohl sie sie geschimpft hat.
    Sie sind zuerst zu zweit in die Stube hineingegangen und haben dann nach dem Vater gesucht und allmählich alle anderen Geschwister zusammengeholt. Auch die drei kleinen. Und auch den Doktor noch mal aus der Kreisstadt. Aber die Mutter war dann doch tot. Einen Wundstarrkrampf hat sie gehabt, haben sie gesagt, und an dem ist sie gestorben. Und drum habe sie auch so stier geschaut. Die Theres kann sich jetzt unter einem Wutstarrkrampf was vorstellen, weil sie ja jetzt ein Bild davon hat.
    Der Lot hat mit dem Doktor Pachie nie mehr ein Wort geredet danach und seine sieben Kinder ganz alleine großgezogen, ohne jede Hilfe. Fast fünf war auch die Theres damals erst.
     

     
    Es war leicht dahergeredet, wenn später gesagt wurde, schon gleich nach seiner Entlassung aus dem Lazarett hätte man es merken können, dass aus dem Anton vom Seewirt nichts mehr wird, weil der Kopfschuss nämlich den Verstand getroffen hatte. Gab es nicht bei beinah jedem, der einigermaßen unbeschadet aus dem Krieg wieder heimgekommen war, irgendeine Seltsamkeit von dieser Art, von der vorher nichts bekannt und nichts zu sehen war? Sogar bei denen, die vollkommen unversehrt zurückgekommen waren?
    Nein nein: Einen Schuss hatte jeder abgekriegt von denen, die an der Front waren. Einen ein jeder! Wenn er auch nicht unbedingt aus Blei war. Jedoch irgendetwas aus dem Lot geraten war bei den meisten, irgendeinen Hau hatten sie alle. Aber es ist schon wahr: Beim Anton fiel einiges mehr auf, nicht nur sein finster fanatischer Blick, der den Menschen einen Schauer über den Rücken jagte und von dem früher nicht mal ein Schimmer zu sehen war. Mit diesem Blick hielt er seine Reden, wenn er die Leute von der Bürgerwehr in den großen Saal zum Holzwirt nach Kirchgrub zu einer Versammlung einbestellte oder auf die Eggn hinaufkommandierte, über dem Kalvarienberg droben, zu einer Übung, die Bürgerwehrler, deren Gründungsmitglied und Hauptmann er war. Mit diesem Blick marschierte er bei der Prozession an Fronleichnam oder beim Kriegerjahrtag vor den anderen her und fuchtelte mit einem

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