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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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eine Schnelligkeit hinlegten beim Reden und Entscheiden, so dass man gar nicht so schnell zuhören konnte wie sie redeten, und die dann wieder verschwanden für das ganze restliche Jahr, das sich immer länger hinzog und immer dunkler zu werden drohte, je mehr er heranwuchs und mit diesem Rhythmus vertraut wurde, und das ihn gerade deshalb den Sommer als den einzigen Lichtblick im Jahr erscheinen ließ, als ob nur in ihm Auftrieb wäre und Leben und nur Dumpfheit, Gräue, Regen und Schlamm in den anderen Jahrszeiten – diese Vereinnahmung durch die Fremden erlebte er jedes Mal wieder wie einen Rausch.
    Er war den ganzen Sommer über aufgedreht wie ein junger Hengst. Die Arbeit erledigte er, ohne die geringste Anstrengung zu spüren. Er schlief nur halb so viel wie in der übrigen Zeit des Jahres und war trotzdem immer hellwach. Seine Wachheit und Unbefangenheit machten ihn zum bevorzugten Ansprechpartner bei den Gästen, wenn sie eine Auskunft wollten oder wenn sie einer praktischen Hilfe bedurften. Nach und nach entwickelte er das Gefühl, mehr zu sein, als es ihm die eigene Existenz in diesem Dorf und in diesem Haus einüben wollte. Wenn diese gebildeten und weltgewandten Leute so auffällig seine Nähe und das Gespräch mit ihm suchten, musste etwas sein an ihm, das er selbst noch nicht so richtig kannte, etwas, das noch aufzudecken war.
    Als er daheim von dem Angebot der Kammersängerin erzählte, entrang das seinem Vater nur ein abschätziges: So? Na ja! Und nach einer Pause sagte er: Wenn dir keine Flausen wachsen deswegen! Von mir aus, geh hin. Die Frau Kammersängerin zahlt eine gute Miete. Aber sofort ist Schluss, wenn die Arbeit darunter leidet. Verstanden?
    Bei seinen Schwestern hingegen entfachte die Nachricht vom Interesse der Kammersängerin an der Stimme ihres Bruders eine Wirkung wie! ... wie? ... wie ein Windstoß in einem frisch angezündeten dürren Reisighaufen vielleicht. Beide waren in einem Klosterinternat erzogen worden und hatten da die Mittlere Reife erworben. Eine Schulbildung, die in ihrer bäuerlichen Umgebung ganz und gar unüblich war und als völlig überkandidelt galt und den Verdacht nährte, dass der Seewirt seine Töchter zu was Besserem herausputzen wolle. – Was haben die? Eine Mittlere Reife!, lästerte der Holzwirt von Kirchgrub beim Frühschoppen nach dem sonntäglichen Hochamt von hinter der Schänke heraus zum Stammtisch hinüber, die heiratet trotzdem keiner, glaubts mir’s, kugelrund die eine und zaundürr die andere. Die eine kugelt dir immer raus aus dem Bett, und die andere kriegst du gar nicht hinein, so katholisch wie die ist! – Wieder waren es die kultur- und bildungsarmen Kirchgruber, die sich das Maul zerrissen. – Mir wär eine Vollreife auch lieber, sagte der Bachhuber und senkte das Niveau gleich noch ein wenig. Lügenbeutel, schimpfte ihn der alte Fesen, am allermeisten täte dir doch eine Frühreife taugen, ha? Und haute mit einem brüllenden Lacher seine Faust auf den Tisch, dass das lacke Bier in den Maßkrügen noch einmal aufschäumte.
    Die dabeisitzenden Seedorfer schwiegen lieber. Der eine oder andere ertappte sich sogar dabei, wie er überlegte, ob seine Tochter nicht vielleicht auch das Zeug für eine höhere Schule hätte. Alle hatten sie schon Kontakt gehabt mit den Fremden und deren Eigenarten. Fast alle vermieteten eine Kammer oder sogar das Wohnzimmer und verdrückten sich und machten sich klein in der Küche, um die Stadterer nicht zu stören – den ganzen Sommer über. Leicht angekränkelt waren sie alle schon ein bisschen, da unten in Seedorf, von dieser Kultur. Man sah es schon daran, wie herbstkatzenhaft sie dasaßen, wie ausgedünnt, am Stammtisch beim Holzwirt, mitten unter den rotgesichtigen und feisten Kirchgrubern, die keine Komplexe kannten, die noch Herr ihrer Arbeit waren und ihrer selbst, die nichts verunsichern konnte oder gar beleidigen, nicht einmal das Schweigen der Seedorfer. Die heiratet nicht trotzdem keiner, dozierte der Attenbauer, sondern die heiratet deswegen keiner, verstehst! So eine weiß doch immer alles besser. Da hättest ja du überhaupt nix mehr zum Melden ... Im eigenen Haus!
     
    Von diesem Gerede erfuhren die Seewirtstöchter natürlich nichts. Es hätte sie nur gekränkt. Sie erinnerten sich, als ihr Bruder mit seiner Nachricht hereinplatzte, an die schöne Zeit im Internat bei den Poinger Benediktiner-Schwestern, wo fast jeden Tag musiziert wurde, weil viele höhere Töchter das Institut besuchten und

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