Mitten im Gefühl: Roman (German Edition)
schmutzige Vergangenheit.« Was offensichtlich eine fette Lüge war. Schlimmer noch, Hector wusste um die Lüge.
»Also hat er dir den Laufpass gegeben«, triumphierte er. »Schätzchen, ich bin ganz Ohr. Stell diesen dämlichen Staubsauger beiseite und erzähle uns alles.«
Hector winkte abfällig in Richtung Treppe. »Vergiss das Saubermachen. Lass uns was trinken! Daisy, willst du dir das auch anhören?«
Aber Daisy ging ganz im Inhalt ihres Briefes auf. Sie hörte gar nicht zu. Also ehrlich – und so was schimpfte sich Freundin.
»Wann genau heiratet er denn?«, erkundigte sich Tara.
»In zwei Wochen. Am 10.Januar. Sechsundneunzig Gäste, drei Weizenallergien, zwei Laktoseunverträglichkeiten, siebzehn Vegetarier und … « – Hectors Lippen schürzten sich verächtlich – » … ein Veganer.«
»Und diese Frau, die er … äh … heiratet?« Tara mühte sich, möglichst beiläufig zu klingen.
Hector lachte laut. »Sie heißt Annabel. Ziemlich füllig. Du und Daisy könntet euch ihr Hochzeitskleid bequem teilen.«
Tara war mit Hectors Neigung zu Übertreibungen vertraut genug, um zu wissen, dass Annabel wahrscheinlich nicht mehr als eine kurvenreiche Kleidergröße 42 war.
»Na gut, aber ist sie hübsch?« Nicht, dass sie sich auch nur ansatzweise vorstellen könnte, Dominic würde jemand Nicht-Hübsches heiraten. Das wäre meilenweit unter seiner Würde.
Hector legte seinen Arm um Taras Schulter und führte sie zur Bar. »Schätzchen, mit dir ist sie überhaupt nicht zu vergleichen.«
›Walking in a Winter Wonderland‹ trällerte in Daisys Kopf, als sie die Auffahrt des Hotels hinunterging. Der Song war im Radio gelaufen, als sie an diesem Morgen aufgewacht war. Er war so weihnachtlich und unbekümmert und musste einfach für gute Laune sorgen. Jetzt fehlte nur noch echter Schnee. Aber Raureif war auch schön, befand Daisy.
Das Hotel sah großartig aus. Am Ende der Auffahrt sprang Daisy über die honigfarbene Cotswold-Steinmauer zu ihrer Rechten und nahm die Abkürzung zum Friedhof. Niemand begegnete ihr auf dem Weg zu Stevens Grab.
Mervyn Tucker, dessen Frau neben Steven in der Erde lag, hatte den Aluminiumeimer zurückgelassen, mit dem er die Pflanzen auf ihrem Grab goss. Daisy lieh ihn sich aus, drehte ihn um und setzte sich. Dann zog sie den Umschlag aus den Tiefen ihres dunkelblauen Cordsamtmantels.
»Hallo, ich bin’s. Ich habe Neuigkeiten für dich.« Während sie sprach, musste Daisy daran denken, dass sie jeder, der sie in diesem Moment beobachtete, zweifelsohne für verrückt halten würde. Auf einem umgedrehten Alueimer kauernd las sie einem Haufen Erde einen Brief vor. Na und? Sie war allein auf dem Friedhof. Weit und breit niemand, der sie sah oder hörte. Und von diesem Brief sollte Steven erfahren.
Daisy hauchte ihre Finger warm. Ihr Atem bildete in der eisigen Luft kleine Wölkchen.
»Also gut. Dieser Brief kam heute an, von jemand namens Barney. Du hast ihm eine deiner Nieren gespendet und die Operation war ein voller Erfolg. Stell dir nur vor! Er ist 25 Jahre alt und du hast sein Leben gerettet. Warte, ich lese es dir vor. Es fängt mit ›Liebe Freundin‹ an, weil er meinen Namen nicht kennt. Er musste diesen Brief seiner Transplantationskoordinatorin geben und sie hat ihn an mich weitergeleitet – offenbar muss es aus Datenschutzgründen so laufen. Jedenfalls schreibt er: ›Liebe Freundin, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich an Sie schreibe. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es für Sie gewesen sein muss, in einer so tragischen Zeit eine solche Entscheidung zu treffen. Aber ich wollte Ihnen unbedingt dafür danken, dass Sie mir ein neues Leben ermöglicht haben. Was immer ich auch sage, es wird unzulänglich sein – ›Dankeschön‹ wäre die Untertreibung des Jahres. Was kann ich sonst sagen? Sie sind ein wunderbarer Mensch – und ich bin sicher, Ihr Ehemann war es auch. Ich kann nur hoffen, dass Ihnen dieser Brief ein klein wenig helfen wird, mit Ihrer Trauer fertig zu werden. Sie verdienen es wirklich, wieder glücklich zu sein. Ich werde Ihnen immer dankbar sein. Wenn Sie mir über meine Koordinatorin antworten wollen, dann würde ich mich sehr darüber freuen. Wenn nicht, verstehe ich das natürlich. Nochmals danke und die allerbesten Wünsche, Barney.‹«
Stille.
Nachdem Daisy den Brief laut vorgelesen hatte, strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legte ihre Hand auf Stevens weißen Marmorgrabstein.
»Ist das
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