Mitten in der Nacht
und seltsam verlegen, sprang er auf die Füße. »Willst du damit andeuten, ich war ein Mädchen?«
»Ich verstehe nicht, warum dich das derart durcheinander bringt. Jede Menge weibliche Wesen kommen ganz gut damit zurecht.«
»Ich nicht. Ich bin das nicht. Ich war das nicht.«
»Es ergibt aber den meisten Sinn, wenn überhaupt etwas Sinn macht.«
»Es ergibt keinen Sinn. Überhaupt keinen. In keiner Weise.«
»Du bist doch derjenige, der immer wieder das Baby weinen hört.« Nie hatte sie ihn so verwirrt erlebt. »Es sind die Mütter, die es als Erste hören. Und du wirst immer wieder von dem Zimmer da oben angezogen, wie eine Mutter sich zu ihrem Baby hingezogen fühlt. Und obwohl der Raum dir Angst macht, zieht es dich immer wieder hin. Du hast erzählt, du seist durch den Dienstbotenflügel gelaufen und hättest dich dort gut zurechtgefunden. Sie hätte es gewusst, aber warum Lucian?«
»Weil es sein Haus war.« Aber jetzt fiel ihm wieder ein, wie er sich eingebildet hatte, durchs Fenster zu schauen, eingebildet hatte, die beiden Männer aufs Haus zureiten zu sehen. Warum sollte er sich einbilden, Lucian nach Hause reiten zu sehen, wenn er selbst Lucian war?
»Und noch ein paar andere Dinge«, fuhr Lena fort. »Es führt eins zum anderen. Jener Tag, an dem ich vorbeikam und dich zum Teich hinuntergehen sah. Wie in Trance. Du gingst seltsam. Damals kam ich nicht dahinter, was mir an deinem Gang so seltsam vorkam. Aber jetzt weiß ich es. Du gingst, wie eine hochschwangere Frau geht. Ein wenig watschelnd«, erklärte sie, als er sich umwandte und sie entsetzt anstarrte. »Eine Hand ins Kreuz gedrückt. Kleine, vorsichtige Schritte.«
»Jetzt behauptest du nicht nur, ich sei ein Mädchen, sondern sogar noch ein schwangeres Mädchen?«
»Herrgott noch mal, cher, manche Leute glauben, sie werden als Pudel wieder geboren. Was ist so schlimm an einer schwangeren Frau?«
»Weil für schwangere Frauen irgendwann einmal die Niederkunft kommt und sie ein mehrere Pfund schweres Baby durch eine sehr begrenzte Öffnung drücken müssen.«
Das Entsetzen in seinem Gesicht hatte was Komisches und sagte ihr, dass sie ihre Theorie lieber nicht weiter strapazierte. »Ich glaube nicht, dass du diese Vorstellung in diesem Leben wiederholen musst. Aber denk mal drüber nach, ob du nicht eventuell die gesuchten Antworten finden könntest, wenn du dir das Rätsel einmal aus diesem Blickwinkel ansiehst?«
Er ertappte sich bei dem Wunsch, sich an den Schritt zu fassen, nur um sicherzugehen, dass noch alles war, wie es sein sollte. Vielleicht sollte er sich zusätzlich noch ein männliches Rülpsen abringen. »Andersrum gefällt es mir besser.«
»Sei einfach offen dafür, cher. Ich muss wieder an die Arbeit.«
»Warte, warte doch.« Er hetzte ihr nach. »Du kannst doch nicht diese Bombe platzen lassen und dann abhauen?«
»Ich muss für meinen Lebensunterhalt arbeiten.«
»Dann komm zurück, wenn du geschlossen hast. Bleib hier.«
»Ich muss ein, zwei Nächte bei meiner Großmama bleiben, bis sie sich wieder gefasst hat.«
»Ist schon gut.« Er atmete aus, als sie das Erdgeschoss erreichten. »Lass mich das versuchen.« Er wirbelte sie zu sich herum und presste seinen Mund auf ihren. Dann küsste er sie tief und verträumt.
»Du hattest jetzt nicht das Gefühl, von einer Lesbe geküsst zu werden, oder?«, fragte er sie, als er sich von ihr löste.
»Hmm.« Sie berührte mit ihrer Zunge ihre Oberlippe und tat so, als würde sie nachdenken. »Nein, ich kann dir attestieren, dass du dieses Mal durch und durch Mann bist. Jetzt aber husch. Du hast die nächsten Tage genug am Bein, um auf andere Gedanken zu kommen. Die ganze Geschichte hat jetzt über hundert Jahre gewartet und kann sich bis nach Remys Hochzeit gedulden.«
»Komm wieder und bleib bei mir, wenn Miss Odette sich besser fühlt.«
»Mache ich.«
»Ich liebe dich, Lena.«
»Ich fürchte, ich dich auch«, flüsterte sie und ging davon.
Lena verließ die Bar, so zeitig es ging, aber es war doch schon nach ein Uhr nachts, als sie vor dem Bayou-Haus parkte. Das Verandalicht brannte und lockte die Motten in den Tod. Sie blieb noch einen Moment sitzen, um der Musik der Frösche und Nachtvögel zu lauschen und dem neckischen Flüstern des Windhauchs.
Dies war der Ort ihrer Kindheit. Vielleicht auch der Ort, dem ihr Herz gehörte. Obwohl ihr Leben sich in der Stadt abspielte, kam sie hierher, wenn sie am glücklichsten oder auch am unglücklichsten war. Hier hatte
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